Kolumne Roter Faden: Zu links für die EU

Der IWF hat sich in eine lernende Organisation verwandelt. Der Schäuble-Merkel-EU wird das allmählich zu bunt. Sie wollen sich von ihm trennen.

Wir könnten den Strukturwandel im Geheimdienstwesen auch durch die Linse der Theorie von den „lernenden Organisationen“ betrachten. 9/11 erschütterte die Geheimen auch deshalb, weil die diversen Dienste eine Reihe von Informationen hatten, die allesamt dazu getaugt hätten, die Anschläge zu verhindern – da sie aber wechselseitig eifersüchtig darauf achteten, sich ja vonniemanden in die Hefte schauen zu lassen, gab es keine Infosynchronisation. Danach wurde radikal von einer Philosophie der Rivalität auf Kooperation umgeschaltet.

Alle sammeln und tauschen Infos! Die nervtötenden gesetzlichen Einschränkungen, etwa, dass man die eigenen Bürger nicht bespitzeln dürfe, spielten plötzlich keine Rolle mehr: Bespitzeln eben die US-Dienste die Deutschen und die deutschen Dienste die US-Bürger und dann tauscht man fröhlich die Daten, und alles bleibt sogar im gesetzlichen Rahmen.

Als beispielhaft lernfähige Organisation erwies sich in den vergangenen Jahren der Internationale Währungsfonds, der für uns Ältere jahrzehntelang der Inbegriff neoliberalen Schurkentums war. Gerade erst sickerte wieder ein mit „streng vertraulich“ überschriebenes IWF-Papier durch, in dem eingestanden wird, man habe die Auswirkungen der Austeritätspolitik auf Griechenland arg unterschätzt, zudem sollten viel mehr der griechischen Staatsschulden gestrichen werden.

Schlüsselfigur des „neuen“ Fonds ist der IWF-Chefökonom Olivier Blanchard, einer der brillantesten Neokeynesianer unserer Zeit. Seit er den IWF intellektuell prägt, gibt es ein Stakatto überraschender Papers und Studien. Als die europäischen Regierungen panisch ihren berüchtigten Fiskalpakt schnürten, schrieb Blanchard auf seinem Blog, Finanzmärkte seien „schizophren“ und reagierten auf Paniksparen, das das Wachstum abwürgt, genauso „nervös“ wie auf hohe Staatsschuldenstände. Danach wies eine IWF-Studie nach, dass die wachsenden Ungleichheiten die eigentliche Ursache der Finanzkrise seien. Und schließlich räumte Blanchard in einem spektakulären Working-Paper die bisherigen Modellannahmen des Fonds in die Rumpelkammer und bewies, dass Austerity nicht funktioniert.

Ignorieren und Verkennen

Diese Woche nun deutete EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso an, dass man den IWF in der EU-Troika bald nicht mehr dabei haben wolle, und zwar mit den Worten, dessen Ziele „passen nicht mehr mit den Zielen der Europäischen Union zusammen“. Im Klartext: Der IWF passt nicht zu einer Merkel-Schäuble-EU, weil er zu links ist. Verkehrte Welt.

Womit wir bei den nicht-lernfähigen Organisationen angekommen wären. Gerade hat die Troika unter Federführung von Kommission und Europäischer Zentralbank wieder eine Beurteilungen der griechischen Sparpolitik vorgelegt, in der die Maßnahmen gegen „Gesundheitswesen-Überausgaben“ (“health-care overspending“) besonders gelobt werden. Maßnahmen wohlgemerkt, die die Kindersterblichkeit um 40 Prozent hochschnellen ließen und die Lebenserwartung derart reduzierten, dass die Süddeutsche Zeitung unlängst von einem bürokratischen „Massaker“ schrieb. So sieht das aus, was Bürokraten mit Tunnelblick unter „Erfolgen“ verstehen.

Die Crux mit dem Leitungspersonal

Ohnehin soll man die Theorie von der Lernfähigkeit von Organisationen nicht überstrapazieren. Man kann noch so viel institutionelle Öffnungen in Bürokratien einbauen, Lernresistenz ist in aller Regel ihr Charakteristikum. Wie Menschen haben auch Institutionen ein „Gesicht“, von dem sie glauben, sie könnten es verlieren, würden sie Scheitern eingestehen und ihre Politik und ihr Funktionieren überdenken.

Ein Umstand, der durch die unpraktische Tatsache noch verstärkt wird, dass in und an der Spitze von Institutionen in der Regel reale Menschen stehen, die einen eingeschlagenen Kurs auch gegen alle Evidenzen fortsetzen, die Fakten und die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen, allein, weil sie glauben, sie stünden als Dummköpfe da, würden sie Fehler eingestehen.

Ja, schlimmer noch: Mag jeder um sie herum schon die Katastrophe sehen, sie selbst nehmen sie nicht einmal wahr, weil sie eine selektive Wahrnehmung entwickelt haben, sich ihre Privat-Fakten zusammenphantasieren, die zur Selbstbestätigung dienen. Die wirkliche Wirklichkeit blenden sie aus. Und ohnehin tun sich Menschen schwer, einen Glauben aufzugeben. Besonders putzig wird es, wenn sich solche Leute dann auch noch als besonders dogmenfreie Pragmatiker sehen. Wie Merkel, wie Barroso.

Pragmatiker als Gläubige, die Vernunft als eigentliche Unvernunft, der Irrsinn als Normalität. Alles verschwimmt. Ist Ihnen schon aufgefallen: Die Paranoiker, die sich stets überwacht und verfolgt fühlen, wirken mit einemmal ziemlich vernünftig.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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