Kolumne Trikottausch 15: Im tiefsten Höllenschlund

Wo das Leben süß nach selbstgekochter Erdbeermarmelade schmeckte, ist nur noch Schmerz. Und es gibt kein Zurück.

Wie lange ist sie nun her, die Schlamperei von Wolfsburg, die UNSEREN hellsten Tag zu pechschwarzer Nacht verfinsterte, die UNS jäh aus himmlischer Glückseligkeit hinabriss in den tiefsten Höllenschlund, die UNSEREN schwarz-rot-goldenen Zauber-Seelen die grausamste Marter zufügte, der je ein Menschenkind ausgesetzt war: Tage, gar Wochen, Jahre? Oder erst Stunden, Minuten, Sekunden? Blieb die Zeit stehen in jener düstersten 108. Minute, die UNSER Zauber-Land jemals in seiner zauberhaften Geschichte erdulden musste? Oder ist eine Unendlichkeit seither vergangen?

Noch immer brennt der Schmerz in unseren Zauber-Herzen so, als hätte Mörder-Japsin Maruyama (28, 1,62m!) ihre Mörder-Hand just in diesem Augenblicke zum kaltblütig berechneten Stiche geführt. Zugleich sind die Tage des Frohsinns und der Leichtigkeit, in denen unsere Seelen so sanft wogten wie ein mecklenburgisches Kornfeld im August, in denen das Leben süß nach selbstgekochter Erdbeermarmelade schmeckte und lieblich duftete wie die milchweiße Brust einer Jungfrau, in denen WIR Gender-Gespräche in minervischer Weisheit führten und Gott selbst inmitten unter UNS fühlten, plötzlich so fern wie die Sterne am Himmel, so unwiederbringlich verloren wie die glücklichen Tage der Kindheit, so unwirklich wie ein nächtlicher Spuk, so unerreichbar wie Gott selbst.

WIR haben geweint. Hemmungslos. Gemeinsam. Einander zu trösten haben WIR versucht. Doch das leidvolle Antlitz unserer Liebsten spiegelte und vervielfältigte nur unser eigen Leid. Wo WIR Labsal suchten, fanden WIR nur größere Qual, wandten uns schließlich, die Unmöglichkeit dieses Unterfangens erkennend, voneinander ab. So blieb ein jeder für sich allein mit seiner Pein: Mal zornig und laut klagend, mal elendig und leise wimmernd, mal totenstill in sich gekehrt.

WIR haben geweint. Bis unsere schwarz-rot-goldenen Zauber-Tränen versiegten, unsere einst so glockenhellen Stimmen verstummten, unsere einst so federleichten Glieder erlahmten. Gegen Morgengrauen übermannte der Schlaf unsere ermatteten Körper und spendete uns eine süße, kurze Erlösung, täuschte UNS mit einem unschuldigen Zauber-Traum, als spielten WIR noch immer darum, Weltmeister der Welten zu werden.

Noch halb im Taumel des Schlafes tappten WIR in unserem Bette nach unseren schwarz-rot-goldenen Zauber-Fahnen, ermunterten UNS bitterlich darüber – und dann, dann brach ein frischer Strom von Tränen aus unseren gepressten Zauber-Herzen und WIR weinten trostlos einer finstren Zukunft entgegen.

Ein neuer, böser Tag ist nun angebrochen und WIR versuchen, unsere Pflichten zu erfüllen. Allein: Es will uns nicht gelingen. Sinnlos erscheint UNS alles Tun, benommen sind WIR, jeder Willenskraft beraubt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, gar zu essen oder zu reden, ein andres Gefühl zu empfinden als nicht nachlassen wollenden Schmerz. UNSER Traum ist tot, bestialisch ermordet. Und WIR wissen: Es gibt kein Zurück.

***

Aber so horrible dictu (Gelehrten-Deutsch für: "unsäglich") diese Worte sind, wissen WIR: The games must go on (Sportler-Englisch für: "Lebbe geht weidda")! Und: Auch wenn WIR glauben keine Kraft dafür zu haben, müssen WIR den Mädchen der Welt weiterhin ein guter Gastgeber sein.

So haben WIR die Spiele als neutrale Beobachter verfolgt. WIR waren hin- und hergerissen zwischen den tanzbeinschwingenden und TRIKOTTAUSCHENDEN Schweden-Schnitten um Schön-Öquist (27, 95/60/90!) und den locker-unbeschwerten Ausi-Mausis um Muslim-Mieze Uzunlar (21) – selbst wenn das Ergebnis UNS scheinbar zum Nachteil gereichte: "Durch das Weiterkommen der Schwedinnen ist Deutschland nicht für Olympia 2012 qualifiziert", berichtete taz-Expertin Frauke Schirmbeck (46), was aber vielleicht besser ist, wird es doch eine Weile dauern, bis ein Trainer mit Eiern um Mel B. (25) eine neue Mannschaft aufgebaut haben wird.

Jedenfalls haben WIR den black-blanc-beuren (Französisch für: "schwarz-weiß-leckeren") Franzen-Häschen um Louisa Zidanette Necib (23) die Daumen gedrückt und waren zugleich beeindruckt vom heldenhaften Mannesmut von Tante Smith (31) und den anderen tapferen Tommy-Tanten.

WIR haben uns mit Hope Solo (Amerikanisch für: "Last Exit") und ihren adretten Amizonen gefreut und zugleich mit den Zucker-Schnecken vom Zucker-Hut getrauert, als Schluss war mit Samba-Zamba. Und WIR waren entsetzt von Brasi-Blödmann-Coach Loser-Lima (37, lässt Überzahl nicht ausnutzen und unglückliches Brasi-Eigentor-Baby Daiane, 28, Elfer schießen, stürzt sie weiter ins Unglück), wie WIR beschämt waren von den Pfiffen des undankbaren ostdeutschen Publikums in Dresden (40 Jahre kein West-Fernsehen, immer noch keinen Anstand!) gegen Marta-Maus-Maradona (25!).

***

Nun sind also diese Vier übrig: die Franzen-Häschen, die Schweden-Schnupsis, die Amizonen und – leider, leider – die Mörder-Japsinnen. Und WIR können aus der extrem objektiven und fairen Distanz des sportlichen und ultraneutralen Beobachters sagen: Mögen die Hübscheren gewinnen!

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Von Juli 2007 bis April 2015 bei der taz. Autor und Besonderer Redakteur für Aufgaben (Sonderprojekte, Seite Eins u.a.). Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2011. „Journalist des Jahres“ (Sonderpreis) 2014 mit „Hate Poetry“. Autor des Buches „Taksim ist überall“ (Edition Nautilus, 2014). Wechselte danach zur Tageszeitung Die Welt.

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