Kolumne Unter Schmerzen: Eine kleine Oase der Regression

Die Verordnung läuft aus und die Aufmerksamkeitseinheiten werden weniger. Das Gesundheitssystem krankt. Was tun?

Mit Lolli oder ohne: So kann es aussehen bei der Physiotherapie. Bild: imago/Jochen Tack

Die Verordnung läuft aus, die Termine werden seltener, ich muss wieder den Facharzt wechseln, damit ich eine neue Verordnung bekomme, denn ganz ohne manuelle Therapie geht es noch nicht. Das ist klar. Jetzt aber ist es endlich wieder so weit. Ich ziehe die Schuhe aus und warte.

Im Wartezimmer liegen die ADAC Motorwelt und das Bootmagazin Yacht aus. Die Physiotherapeutin erzählt von ihrer frisch geerbten Jolle. „Eine schmerzlich empfundene Zufälligkeit.“

Die Verspannungen gehen zurück, sagt sie. Sie liebt es, Dreiviertelhosen zu tragen und Ringelstrümpfe, und sie hat rot gefärbte Haare, und zu Hause spielt sie ihren Kindern Lieder auf der Ukulele vor. Trotzdem verfolgt sie eher einen Gegenentwurf zu Pippi Langstrumpf. Also einerseits keck und eigen, andererseits eben völlig altruistisch – und in ihrer Freizeit segelt sie zu den Inseln im Havelsee. Obwohl, klingt doch sehr nach Pippi Langstrumpf. Vielleicht sollte ich mal wieder in das Buch gucken.

Aber wenn die Fangopackung kommt („Ich bringe die Wärme“, sagt sie) – Fango ist italienisch und heißt Schlamm –, schlafe ich meist schnell ein, weil sie mich einpackt wie eine Mutter ihr Kind, das Licht dimmt und die Tür zumacht, und wenn sie siebzehn Minuten später klopft, um die manuelle Therapie zu beginnen, muss ich mich erst wieder zurechtfinden in dieser eingerichteten Welt. Leere Räume und die Frage, wo füllt sich was.

Ich mag das, ich kann nicht mehr ohne

Ich mag das, ich kann nicht mehr ohne. Es ist eine kleine Oase der Regression, diese physiotherapeutische Praxis, und es ist fast so erotisch wie bei der Osteopathin. Aber klar, am Ende, bevor es zu Liebe kommen kann, geht man wieder.

Aber wie gesagt, die Zeit läuft gegen mich, die Heilung läuft leider nicht so schnell, und mir gehen allmählich die Verordnungen aus. Dabei muss es heißen: sich weiter ans Programm halten. Schmerzmittel und Manuelle Therapie. Keine Panik bekommen wegen der jüngsten Schmerzwelle, da schaut einfach wieder ein Stückchen der alten Bandscheibe raus. Die wird dann sukzessive abgebaut, körperlich. Was allerdings viel zu lange dauert.

Überhaupt: Ich mag meinen Neurologen, ich schätze diesen einen Orthopäden, die anderen nicht, ich liebe meine Physiotherapeutin. Aber die Rundumbetreuung lässt insgesamt doch zu wünschen übrig. Meine alten Eltern haben recht: Das Gesundheitssystem krankt. Schon das Dezentrale nervt, die Terminvergaben, die Verordnungskriterien.

Ich male mir so etwas wie moderne Ärztehäuser aus, in jedem Viertel der Stadt stehen drei, eins für Kinder, eins für Erwachsene, eins für Senioren. Im untersten Stockwerk gibt es Allgemeinärzte, und, wenn erforderlich, wird man nach oben zu den stets anwesenden und bereiten Spezialisten geschickt. Es gibt Operationsräume und Übernachtungsmöglichkeiten. Ein Ärztehaus für alle. Für alle Ärzte und alle Patienten. Und die Bezahlung geht wesentlich unbürokratischer, einfacher vonstatten – Zahnärzte und Psychotherapeuten, so forderte es auch Michael Moore kürzlich hier, sind sogar umsonst.

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