Kolumne Vuvuzela 26: Dieser Albtraum ist Wirklichkeit!

Das war kein böser Traum, aus dem wir schweißgebadet erwachen. Es ist Wirklichkeit. Und es gibt – o grausames Rad der Zeit! – es gibt kein Zurück.

Dieser Schmerz geht nicht vorbei. Mehr als 30 Stunden ist die Schande von Durban nun her, und es tut so weh, so weh, so unendlich weh – noch mehr weh als in jener schlimmsten 73. Minute der Menschheitsgeschichte, in der Zauber-Mörder-Puyol (32, 178 cm) mitten in unser Zauber-Herz stach. Denn allmählich begreifen wir: Das war kein böser Traum, aus dem wir schweißgebadet und doch mit dem glücklichen Gefühl, dem Schrecken entronnen zu sein, erwachen könnten. Dieser Albtraum endet nicht, denn er ist Wirklichkeit. Und es gibt – oh grausames Rad der Zeit! –, es gibt kein Zurück.

Die kolossale Größe des Verlustes, die wir erst langsam zu verstehen beginnen, übertrifft alles, was ein Zauber-Herz, was 80 Millionen Zauber-Herzen zu erdulden vermögen. Und: Selbst wenn wir es wollten, können wir es dieser Gurken-Truppe (ausgenommen: Miro Klose, 32) nicht verzeihen, dass sie unseren Traum von einem Sexy-Chilly-Funky-Punky-Trendy-Super-Duper-Knuddel-Wahnsinns-Zauber-Märchen-Deutschland so kaltblütig ermordet hat.

Vorbei jene Tage, in denen Deutschland nach Himbeereis schmeckte; eine Unendlichkeit weit entfernt das Leben in Leichtigkeit, Frohsinn, Gemeinschaft, Glück; wie ein Spuk verflogen aller Zauber, der uns in seinen süßen Bann zog.

Wir tragen Trauer, und die ganze Welt (ausgenommen: spanische Mörderbande!) teilt unser Leid. Niemand unter uns, der nicht, ohne einen Augenblick zu zögern, sein Kostbarstes, sein Liebstes, sein eigen Leib und Leben mit Freuden hergäbe, wenn er dadurch die Schande von Durban ungeschehen machen könnte!

Alles Lachen ist verstummt, jedes Gespräch erstarrt, jede Tätigkeit ihres Sinnes beraubt, schwarz sind unsere Zauber-Seelen. Niemand, der es wagen würde, dem anderen ins Gesicht zu sehen. Denn unerträglich ist der Anblick des Anderen, spiegelt und vervielfacht er doch unser eigen Leid. Schlaftrunkenen gleich versuchen wir, so gut es geht, unseren Pflichten nachzukommen.

Allein: Es will uns nicht glücken. Wir sind benommen, jeder Willenskraft beraubt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn zu essen, zu trinken oder zu reden. Ab und an finden wir die Kraft, ein paar Worte zu sprechen, versuchen dann, uns gegenseitig Trost und Erbauung zu spenden (2014!). Aber auch das will nicht gelingen.

Denn tief in unseren Zauber-Herzen spüren wir: Unser Traum ist tot, bestialisch hingerichtet, grausam massakriert, unwiederbringlich verloren. Und keine irdische oder himmlische Macht, die unseren Schmerz lindern, keine Zerstreuung, die uns ablenken, kein Rausch, der uns mit Vergessen beglücken könnte. Eine tiefe Düsternis erfüllt das Land, ein Schmerz, der nicht vergeht. Ein Schmerz, der, ausgehend von unseren Zauber-Herzen, in unsere Zauber-Glieder fährt und in jeder Faser unserer Zauber-Körper so lichterloh brennt, dass uns noch das Höllenfeuer als Erlösung erscheint.

In diesem dunkelsten, mit nichts und gar nichts vergleichbaren, schlimmsten Moment der Geschichte dieses Zauber-Landes, in dieser Stunde der unbeschreiblichen Not, des furchtbarsten Elends ringen auch wir nach passenden Worten, ohne sie zu finden.

Wie gerne würden wir jetzt sagen: Grämet euch nicht, liebe Zauber-Fans, setzt euch nicht in eins mit dieser Versager-Bande, seid stolz auf euch! Wie gerne wären wir euch Labsal in eurer Qual. Wie gerne riefen wir euch zu: An euch hat es nicht gelegen! Euch trifft keine Schuld! Ihr seid die Besten! Die Zauberhaftesten! Eure Zauber-Herzen sind schön, edel und jungfräulich. Eure Zauber-Herzen sind so golden wie der Zauber-Streifen in euren Zauber-Fahnen!

Aber wir wissen, dass wir euch nicht trösten können, so wenig wie wir uns selbst trösten können. Wir wissen: Es gibt keinen Trost.

Wir trauern.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Von Juli 2007 bis April 2015 bei der taz. Autor und Besonderer Redakteur für Aufgaben (Sonderprojekte, Seite Eins u.a.). Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2011. „Journalist des Jahres“ (Sonderpreis) 2014 mit „Hate Poetry“. Autor des Buches „Taksim ist überall“ (Edition Nautilus, 2014). Wechselte danach zur Tageszeitung Die Welt.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.