Kolumne „Wirtschaftsweisen“: Neohippies im Deutschlandlager

Urbane Gärten, Festivalgelände, alte Fabriken: Solche Öko-Soziotope sind Orte für die Ideen Epikurs. Und nicht zuletzt profitieren davon die Schwalben.

Errichten reale Nestwerke: Schwalben (hier der hungrige Nachwuchs) Foto: dpa

Kürzlich landete ich erneut in einem dieser seltsamen Öko-Soziotope der Bachelor-Generation: diesmal am Ufer der Mulde auf dem weitläufigen Gelände der Alten Spitzenfabrik in Grimma.

In dieses „Dorf der Jugend“ war die mobile meinland-Redaktion der taz mit Diskussionen, DJs und Isomatten eingefallen. Dann war ich auf der einstigen Abhörstation der NSA im Grunewald, die auf der zertrümmerten Wehrtechnischen Nazi-Fakultät der TU errichtet wurde und heute Musensitz einiger Künstler ist, zudem Partylocation, Garten und Ausstellungsraum. Davor war ich auf dem ehemaligen Flugplatz in Lärz/Müritz des 33. Jagdfliegerregiments der Roten Armee, wo auf dem riesigen „Fusion“-Gelände der „Weltkongress der hedonistischen Internationale“ tagte.

Zuvor hatten sich diese etwa 1.400 Neohippies auf dem einstigen „Deutschlandlager“ an der Führerschule der Hitler-Jugend in Kuhlmühle bei Wittstock getroffen, das vierzig Kreuzberger 2010 als „Schnäppchen“ erwarben. Im vergangenen Sommer hatte ich bereits das Fuchsbau-Festival auf dem „Zytanien“ genannten Freigelände einer abgewickelten Ziegelei bei Lehrte besucht. Und in Berlin verfolge ich immer mal wieder die Entwicklung der Prinzessinnengärten und des Tempelhofer Flugfelds.

Es gibt inzwischen zig solche Orte in Deutschland. All diese von Kapital und Staat verlassenen Geländegewinne eint, dass sie von einer Gruppe in Beschlag genommen, begärtnert und mit fantasievollsten Architekturen bestückt werden – auf dass die ausbildungsfrustrierte Bachelor-Jugend sich dort massenhaft einfindet, damit Geld für die weitere Geländegestaltung reinkommt.

Das Credo des „Weltkongresses“ für diese vegan-vegetarischen und politisch korrekten Locations lautet: „Wir begreifen den Hedonismus nicht als Motor einer dumpfen, mate­ria­lis­tischen Spaßgesellschaft, sondern als Chance zur Überwindung des Bestehenden, und wollen Freude, Lust, Genuss und ein selbst bestimmtes Leben in Freiheit für alle! Sowie fröhliches Miteinander, Anarchie, die Ideen Epikurs, bunte Freude, Sinnlichkeit, Ausschweifung, Freundschaft, Gerechtigkeit, Toleranz, Freiheit, sexuel­le Freizügigkeit, Nachhaltigkeit, Friede, freien Zugang zu Information, Kunst, kosmopolitisches Dasein, eine Welt ohne Grenzen und Diskriminierung.“

Es geht um die Kunst, nicht regiert zu werden!

Als ich nach 1989 von den ersten Sommer-Raves im Umland hörte, dachte ich: Na gut, in den verlassenen Industriekomplexen vergnügt sich jetzt gegen Eintritt die durch die Computerisierung überflüssig gewordene Jugend mit Maschinenmusik (Techno) und Drogen (Ecstasy). So wie man jetzt auch für die schweißtreibende Arbeit an Maschinen in sogenannten Fitnesscentern bezahlen muss. Ich engagierte mich lieber kostenlos für den Erhalt der letzten proletarischen Arbeitsplätze in den LPGen und Fabriken.

Reale Nestwerke

Aber langsam dämmerte es mir: „Wir haben es satt!“ – es gibt keine ökonomische Utopie mehr, nur noch eine ökologische! Und das bedeutet, dass wir gar nicht genug deproletarisieren können und stattdessen diese idyllischen, inselgleichen Locations der Linken, die ja nicht nur temporäre Tanzflächen oder hübsche Urban-Gardening-Projekte sind, sondern kollektive, selbstorganisierte Existenzweisen (Start-ups), vor dem Verfall durch Profitabilisierung schützen sollten. Es sind nicht nur virtuelle Netz-, sondern auch reale Nestwerke: Wie viele Schwalben, Mauersegler und Stare allein an den schrägen Installationen in Grimma, Lehrte und Lärz brüten!

Schon gibt es ganze EU-Ini­tiativen, um weitere „Dörfer der Jugend“ entstehen zu lassen. Aber ob diese – von oben gefördert – jene von unten, spontan entstandenen ergänzen oder gar ersetzen können, ist fraglich. Epikurs Schule fand einst im Garten statt. Auf dem „Stadtforum von unten“ in der Kreuzberger Markthalle Neun meinte kürzlich einer zu dem dazu tagenden „Stadtforum von oben“: „Die Planer machen immer Top-down-Gärten, wir müssen Bottom-up-Gärten machen, das heißt aus Grau – Beton – Grün.“

Die Experten in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft haben abgewirtschaftet. Sie haben keine Ahnung.

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