Kommentar „Deutschland spricht“: Hauptsache, man ist Mensch

Zeit Online organisierte jüngst „Deutschland spricht“. Aha. Aber wer ist eigentlich „Deutschland“? Und was wird da so gesprochen?

Zwei Männer sitzen mit dem Rücken zueinander an ihren Laptops

„Austausch mit Andersdenkenden“ Foto: rawpixel/Unsplash

Wenn ein 68-jähriger Fernsehmoderator einen 44-jährigen leitenden Redakteur in einem öffentlich-rechtlichen Nachrichtenstudio mit ernstem Blick fragt, ob das „analoge Gespräch“ denn „noch zeitgemäß“ sei – spätestens dann ist klar, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmt.

Wo die kognitiven Dissonanzen so groß sind, dass der Spalt den Bildschirm sprengt, da ist prompt auch sie nicht weit: die „Spaltung der Gesellschaft“. Hölle nochmal! Ach, Herr Bundespräsident, Sie auch hier? Und wo bleibt eigentlich Mutter Theresa?

„Deutschland“ also, es „spricht“. Aber wer ist „Deutschland“? Und was wird da so gesprochen?

Erfolgsgeschichten sind es, die von der „bundesweiten Aktion“ versendet und berichtet werden. „In den Details hatten wir recht unterschiedliche Ansichten (spezifisch Thema Flüchtlinge und Sexismus), aber in den grundlegenden Dingen waren wir überraschenderweise einer Meinung“, schreibt zum Beispiel die „24-jährige Studentin Janike Bolter aus Berlin“ der Tagesschau im Internet.

Am Ende kommt man immer super zurecht

Flüchtlinge und Sexismus? Klar, Marginalien. Hauptsache, man versteht sich. Über alle Lager hinweg! „In der Gesellschaft fehle Kommunikation, die Medien polarisierten zu sehr (…). Eine ihrer Erkenntnisse dementsprechend: selbst weniger in Schwarz-Weiß zu denken. ‚Nur weil es die AfD anspricht, ist es nicht rechts und sollte diskutiert werden, das nimmt ihnen auch etwas Wind aus den Segeln.‘“

„Deutschland spricht“: womit? Natürlich, A, B, C, halt! A – wie „Austausch mit Andersdenkenden“. Hauptsache, man ist Mensch. Deutscher Mensch natürlich. Aber wie anders können die Andersdenkenden denn eigentlich denken, wenn man am Ende doch immer super zurechtkommt und im ‚Kern‘ die „Ansichten (…) oft gleich gewesen“ seien, wie „Lisa Rocke aus Hildesheim“ der Tagesschau schreibt?

Wie konträr können die Positionen sein, wenn 85 Prozent der Teilnehmenden schon vorher fanden, dass „Muslime und Nichtmuslime“ in „Deutschland“ „gut zusammenleben“ können? Und was soll das für ein Streit sein, an dessen Ende vor allem die große, heile Gemeinschaft steht, in der sich alle liebhaben, alle „verstehen“?

„Deutschland spricht“: warum? Weil es schon immer gesprochen hat, nicht anders kann. Integrationsdebatte, Migrationsdebatte, Windraddebatte, Fahrraddebatte, Wehrmachtsdebatte, Debattedebatte. Spaltung, Spaltung, Doppelspaltung, Querspaltung, Längsspaltung, Geradeausspaltung.

Nie hört es auf, das Gerede

Doch anders als sonst sitzen die Normalos, die man zur Eigenbeglaubigung herankarren ließ, nicht nur gurgelnd im Talkshowpublikum oder am jeweiligen Unwetterort, damit auch dem Letzten noch bewusst wird, dass das jetzt auch wirklich stattgefunden hat; nein – die Normalos, sie „sprechen“ jetzt selbst.

Und schallen sich dabei doch nur denselben Wortmüll entgegen, den Politiker, Tagesschaus und di Lorenzos dieses Landes eh schon ständig von sich geben. Wenn auch mitunter in überraschender Reihung: „‚Moin tagesschau!‘, schreibt Lorenz Stellmacher. Sein dreistündiges Gespräch habe in einem kleinen Café nahe des Lübecker Rathauses stattgefunden: ‚Wir verstanden uns sofort.‘

Wichtige Themen ihres Gesprächs seien Rechtsextremismus gewesen – und die Frage, wie man die Verkehrsplanung in Großstädten weiterentwickeln könne. Stellmachers Fazit: ‚Bin mit dem Treffen sehr zufrieden.‘“ Immerfort wird gesprochen, nie hört es auf, das Gerede, die Menschen, das Leben, die Spaltung der Gesellschaft. Kleiner geworden ist die indes nicht (nach allem, was man so hört). Eher noch größer.

„Deutschland spricht“: worüber? Die Themen gesetzt haben andere. Trump, Islam, Verkehr, Asyl – ausgewählt von Zeit Online und seinen zehn kooperierenden Mit-Medienhäusern. Die selige Mitte debattiert darüber, dass sie endlich debattiert, worüber sie schon immer debattiert. Möglichst wenige Schafe sollen ihr abspenstig werden und auf dumme Gedanken kommen bei all den Gesprächen, Schlüsse gar ziehen.

Donnergrollen verirrter Lämmer

Wie den, dass sich vielleicht etwas grundsätzlich ändern muss an der so vielbeschworenen „Gesellschaft“.

Oder den, dass all der „Hass“, der jetzt durch normiertes Sprechen vor und hinter Redakteurs-Kladden graswurzelmäßig bekämpft werden soll, womöglich gar kein so plötzlich aus der dunklen Nacht hereinbrechendes Donnergrollen verirrter und verführter Lämmer ist, sondern ganz und gar aus eben ihrer Mitte kommt.

„Deutschland spricht“. Es sollte besser schweigen.

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Seit 2015 bei der taz, zunächst als Praktikant, dann als freier Autor und Kolumnist (zurzeit: "Ungenießbar"). Nebenbei Masterstudium der Ästhetik in Frankfurt am Main. Schreibt über Alltag, Medien und Wirklichkeit.

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