Kommentar Globalisiertes Reisen: Egoismus für alle

Fast jeder kann sich mittlerweile Reisen leisten, die Tourismusindustrie wächst. Doch die Demokratie bleibt auf der Strecke.

Reisende mit Rucksack laufen mit dem Smartphone in der Hand durch die Gegend

Billig reisen mit Uber? Kein Taxifahrer kann mehr von seinem Brotjob leben, wenn Touristen mittels App die üblichen Preise unterbieten Illustration: Eléonore Roedel

Jahrelang hat das Ehepaar in sein bescheidenes Wochenendhaus investiert, gebaut, gespart. Dann haben sie es verkauft und sich mit dem Erlös einen Traum erfüllt: eine Kreuzfahrt.

Ein Traum, der heute für immer mehr Menschen bezahlbar geworden ist. Man nennt das die „Demokratisierung des Reisens“. Ein Luxus, der früher nur wenigen Privilegierten und Reichen vorbehalten war, ist hierzulande in einer bezahlbaren Wirklichkeit für viele angekommen, auch wenn die Distinktionsspiele nach Preis und Ansehen weiter existieren.

Im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit ist dies tatsächlich Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand. Im Wesentlichen produziert von Reisever­anstaltern, die den Reisetraum als Stückwerk produzieren, als ein unkompliziertes, buchbares Angebot mit vielen Facetten, den sogenannten Reisemodulen. Die Kreuzfahrt inklusive Kapitänsdinner, die Bildungsreise, den Strandurlaub, die Trekkingtour.

Weltweit werden die Strände ausgebaut mit Bettenburgen und luxuriösen All-­inclusive-Anlagen. Dazu gibt es Spezialangebote für alle Geschmäcker – für den Sextouristen genauso wie für den Himalajabergsteiger. Niemand wurde in den vergangenen Jahren ausgegrenzt. Keiner vergessen. Jeder findet seinen Reisetraum, vielfältig aufbereitet.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Sind TUI und Co also die großen Demokratisierer? Und die Billigairlines die Wohltäter der Neuzeit, die endlich unendlich vielen den Traum vom Wochenende in Lissabon oder New York ermöglichen, wie Michael O’Leary, Chef der irischen Billigfluggesellschaft Ryanair, stets in Interviews betont? Sind sie demokratisierende Beglücker – oder intelligente Geldmaschinen? Wahrscheinlich beides.

Die weltweite Expansion

Tourismus ist eine Erfolgsstory weltweit – und eine Industrie wie andere auch. Der Tourismus hat das Angebot unendlich vergrößert und spezifiziert, indem er die Menschen zur Ware ihres Geschmacks und ihres Geldbeutels brachte. Bei bodenständigen Menschen, die ans Verreisen nie auch nur dachten, wurden Bedürfnisse geweckt. Aus den Mündern von Veranstaltern und Interessenvertretern der Industrie wurde Demokratisierung zum Rechtfertigungsargument für die weltweite Expansion – und vor allem zu einem Zauberwort, alles zu fordern und auf den Weg zu bringen, was Rendite versprach.

Wer sich etwa gegen exzessiven Straßenbau in den Alpen aussprach, wurde schnell als „Bremser“ abgestempelt oder, noch schlimmer, als Diskriminierer, der Rollstuhlfahrern den Zugang zu den schönsten Alpengipfeln verweigere. Die Rede von der Demokratisierung relativierte auch stets den Ausverkauf von Land und Leuten. Inzwischen ist Tourismus die erfolgreichste Industriesparte der Welt. Sein Volumen wird auf rund 7.000 Milliarden Euro im Jahr geschätzt. Das sind 10 Prozent der Weltwirtschaftsleistung.

Die Zukunftsprognose des internationalen Tourismus: glänzend! Die touristische Spirale dreht sich weiter – und vielleicht schneller denn je, denn längst sind neue Akteure auf den Plan getreten. Und neue Interessen.

Die Neuen, das sind etwa Billigairlines, die kaum mehr als ein Taschengeld fordern, um Freizeitler umstandslos für ein Wochenende zu einer angesagten Partymeile nach Barcelona oder Berlin zu bringen oder mal schnell nach Amsterdam zu einem Kunstevent oder an einen der Strände von Mallorca.

Noch vor wenigen Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, dass selbst die überdimen­sio­nierten Infrastrukturen von uralten Touristenhits wie Mallorca oder Venedig nun unter dem neuen Ansturm zu kollabieren drohen. Dass in Großstädten wie Amsterdam Anwohner wegen der Überfülle an Menschen verzweifeln, die ihre Stadt lieben, die feiern, lachen und Spaß haben wollen. Was hier passiert ist, war in diesem Jahr Thema aller touristischen Fachleute und der Medien: Overtourism.

Die touristische Logik

Damit sind die weltweiten Hotspots und It-Places des Städtetourismus gemeint, die vor allem deshalb entstanden sind, weil sie über Renommee verfügen und so preiswert und bequem zu erreichen sind. Im Hotspot bündeln sich die touristischen Ströme. Hier finden alle zusammen. Schnäppchenjäger genauso wie die Renditehaie der Tourismusbranche, Partygänger wie Luxusreisende. Der Hotspot ist Kulminationspunkt touristischer Aktivitäten.

Und wenn es am It-Place dauerhaft zu voll wird, wenn beispielsweise die Alhambra in Granada überlaufen ist und für einen bestimmten Tag keine Tickets mehr verfügbar sind, muss man daneben eben ein Einkaufszentrum bauen, „um die Leute so lange anderweitig zu beschäftigen“, so der bahnbrechende Vorschlag des neuen Generalsekretärs der Welttourismusorganisation (UNWTO), Zurab Pololikashvili. Das ist touristische Logik.

Was das noch mit Demokratisierung zu tun hat? Eigentlich nichts. Vielmehr ist dieser neue, zeit- und raumfressende Tourismus die Folge der rasanten Globalisierung und noch rasanteren Digitalisierung. Was die touristische Welt jetzt auf dem Globus surfen lässt, gehört zu einer neoliberalen Postmoderne, der sich vor allem die neuen, kosmopolitischen Mittelschichten verschrieben haben. Weltweit. Ob in China oder in Deutschland.

Reisen boomen überall dort, wo die Mittelschicht zu Wohlstand kommt. Demokratie hin oder her. Man macht es dem Kapital nach, das um die Welt rast. Reisen ist die „Schlüsselpraxis ihrer Lebensführung“, so der Soziologe Andreas Reckwitz in seiner Studie zu den neuen deutschen Mittelschichten. Es sei zu einer „identitätsstiftenden Beschäftigung“ geworden, die das kosmopolitische Bewusstsein der neuen Mittelklasse präge. Diese nutze „Globalität in allen ihren Facetten als eine Ressource für die Entwicklung des Ich“.

Reckwitz stellt die neue Reise- und Lebenspraxis dem klassischen „Massentourismus“ entgegen. Während dieser „die industrielle Moderne“ mit „standardisierten Paketen“ charakterisierte, mache der spätmoderne Tourismus das Reisen zum „Gegenstand aktiver Gestaltung und geschickter Zusammenstellung“. Es gehört zum Habitus.

Sozial­dumping dank Gig Economy

Der „Posttourist“ ist ein souveräner Tourist. Er nutzt die Verkehrswege der extrem touristifizierten Weltgesellschaft. Sicher bewegt er sich via App und Internet durch die dichte Infrastruktur der internationalen Tourismusbranche. Er findet noch jedes Schnäppchen selbst. Seine wunderbare Welt ist das Netz. Und Social Media. Und so souverän er reist, so souverän verdient er auch – wenn möglich – daran mit. Beispielsweise, indem er selbst zum Akteur touristischer Dienstleistung wird und seinen Wohnraum im Kiez zahlenden Gästen zur Verfügung stellt. Mit Airbnb wurde diese unternehmerische Kleinaktivität vieler Stadtbewohner binnen weniger Jahre zu einem weltweit erfolgreichen, internetbasierten Geschäftsmodell: ein fremdenfreundliches Verhalten, das inzwischen den sozialen Frieden in ruhigen Wohnvierteln angefressen hat.

Einige Großstädte haben bereits reagiert und das Vermieten von Wohnraum an ständig wechselnde Touristen reguliert. Das Problem bei der Beförderungs-App Uber („Beförderung ganz nach Wunsch“): Soziale und Sicherheitsstandards werden umgangen und aufgeweicht. Kein Taxifahrer kann mehr von seinem Brotjob leben, wenn Privatleute sich mittels App ins Geschäft einklinken und die üblichen Preise unterbieten. Nicht nur im Großen wie bei den Billigairlines wird versucht, die Löhne zu drücken. Wo jeder zu seinem eigenen Unternehmer wird, mischen alle beim Sozial­dumping mit.

Natürlich genießen hierzulande alle die gleichen Grundrechte und haben das Recht, sich selbst zu verwirklichen. Aber, kantisch gedacht, endet die Freiheit des einen an der Freiheit des anderen. Ressourcenverbrauch, weltweit verbaute Strände, die Klimabelastung, mindestens 8 Prozent aller Treibhausgase entstehen durch Reisen, dazu genervte Bewohner, ausverkaufte Städte. Bedenkt man die Schäden durch Tourismus am Gemeinwohl, was auch die Umwelt einschließt, dann stößt das Demokratisierungsargument schnell an seine Grenzen. Wer ist schuld? Wer soll das alles bezahlen?

Verteilungsgerechtigkeit bedeutet auch Verteilung von Pflichten. Für politische Philosophen wie Michael Walzer (der in den 1980er Jahren eine progressive Theorie von Verteilungsgerechtigkeit entwickelt hat) beruht reiner Liberalismus auf einer fehlerhaften Theorie der Person: Sie vernachlässige systematisch die konstitutive Bedeutung der Gemeinschaft für den Einzelnen.

Die sozialen Ressourcen sind endlich

Alle erzeugten Güter sind schlussendlich auch soziale Güter und haben auch eine gemeinschaftliche Bedeutung. Hinter ihrer Erzeugung stehen soziale Prozesse und damit auch andere Menschen als man selbst. Wer daran teilhat, hat auch Verantwortung. Für sich selbst. Und für die anderen, die betroffen sind.

Die Aushebelung sozialer Regeln, gewachsener Strukturen und erkämpfter Standards berührt die Grundlagen des demokratischen Konsenses. Dumpingangebote werden auf dem Rücken der im Tourismus Beschäftigten erzeugt, genauso, wie Billigflieger an Löhnen und Personal sparen. Schon lange übersteigen die touristischen Steigerungsraten alle wohlmeinenden Versuche und Projekte, den internationalen Tourismus umwelt- und sozialverträglicher zu gestalten.

Denn nicht nur die natürlichen Ressourcen sind endlich – die sozialen Ressourcen sind es auch. Wo jeder nur an sich selbst denkt, seinen Vorteil sieht, werden sich keine Mehrheiten mehr für das Gemeinwohl finden lassen. Wo der Eigennutz regiert, wird es möglicherweise keine demokratischen Möglichkeiten mehr geben, die negativen Folgen der überbordenden Reiseaktivität für Menschen und Natur zu regulieren. Ein ­Fiasko für die Demokratie. Wo Touristen beispielsweise immer noch glauben, mit dem Schnäppchenpreis die Folgekosten ihres Reiseverhaltens abgegolten zu haben, wird sich keine Mehrheit mehr für eine Besteuerung des Flugbenzins finden ­lassen; ­Billigstlöhne, im Tourismus üblich, werden in Kauf genommen.

Notwendige Einschränkungen und Regelungen durch die Politik, faire Preise für faire Produkte gelten vielen als unpopulär, als Bedrohung der ­politisch verbürgten Rechte. Reisen ist heute ­billig zu haben – demokratische Verhältnisse sind es nicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Schwerpunkte: Reise und Interkulturelles. Alttazzlerin mit Gang durch die Institutionen als Nachrichtenredakteurin, Korrespondentin und Seitenverantwortliche. Politologin und Germanistin mit immer noch großer Lust am Reisen.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.