Kommentar Göttinger Friedenspreis: Das Prinzip Kontaktschuld

Es gibt keinen vernünftigen Grund, der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ den Göttinger Friedenspreis zu verweigern.

Ein israelischer Soldat schiebt einen Einkaufswagen mit Ausrüstung entlang der israelischen Grenze im Gaza-Streifen.

Welches der Weg zum Frieden im Nahen Osten ist, darüber streiten sich manche Deutsche gern Foto: dpa

Nein, es gibt keinen vernünftigen Grund, der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ den ihr zugesprochenenen Preis zu verweigern beziehungsweise den Festlichkeiten der Preisverleihung fernzubleiben oder sich von ihnen zu distanzieren.

Gewiss: Unbestritten ist, dass die „Jüdische Stimme“ die Organisation „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) unterstützt. Und diese wird trotz ihrer erklärten und bisher auch durchgehaltenen Gewaltfreiheit von vielen, die dazu von der Sache berufen oder eben auch nicht berufen sind, für antisemitisch erklärt.

Erstens, weil BDS Waren von israelischen Firmen, die Juden gehören, boykottieren will – was viele an den nationalsozialistischen Judenboykott vom April 1933 erinnert.

Zweitens, weil BDS fordert, dass der Staat Israel alles besetzte und kolonialisierte arabische Land räumt – was nach Überzeugung vieler nicht weniger bedeutet als das Ende des jüdischen Staates Israel. Dem mag so sein oder nicht, indes folge man der Logik: eine Rückzugsforderung an den Staat beinhaltet immerhin, dass es auch Gebiete gibt, auf denen er legitim existiert.

Seit 1999 vergibt die Stiftung Dr. Roland Röhl jährlich den Göttinger Friedenspreis „an Einzelpersonen oder Personengruppen, die sich durch grundlegende wissenschaftliche Arbeit oder durch herausragenden praktischen Einsatz um den Frieden besonders verdient gemacht haben“.

Ausgezeichnet wurden bislang unter anderem die Gesellschaft für bedrohte Völker (2003) und Pro Asyl (2010), der SPD-Politiker Egon Bahr (2008) und der Soziologe Wilhelm Heitmeyer (2012); zuletzt 2018 Konstantin Wecker und die Zeitschrift Wissenschaft & Frieden.

Am 4. Februar gab die Stiftung bekannt: 2019 geht der Preis an die Organisation „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, deutscher Ableger der „European Jews for a Just Peace”.

Protest äußerte zuerst der Zentralrat der Juden in Deutschland – unter Hinweis auf die Unterstützung für die Boykottbewegung BDS. Dem schlossen sich mehrere Göttinger FDP-Politiker*innen an. „Völlig verfehlt“ nennt auch der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, die Entscheidung.

Die Jury stand zu ihrer Wahl. Sie ist laut Stiftungssatzung unabhängig, den Vorsitz hat zurzeit Andreas Zumach inne, selbst Preisträger 2009 sowie Autor der taz.

Mitte vergangener Woche zogen sich Stadt, Universität und die örtliche Sparkasse zurück. Der Preis soll Zumach zufolge wie geplant am 9. März vergeben werden – an noch zu findendem Ort.

Aber auf all das kommt es von der Sache her auch gar nicht an: Schließlich soll der infrage stehende Preis, der Göttinger Friedenspreis, nicht der Organisation BDS verliehen werden – sondern der „Jüdischen Stimme“. Und die hat wieder und wieder erklärt, zwar einerseits BDS in menschenrechtlichen Angelegenheiten zu unterstützen, aber andererseits mindestens ebenso oft und nicht minder deutlich, dass sie an der Existenzberechtigung des Staates Israel nicht rüttelt.

Historische Hochburg der Aufklärung

An dieser Stelle kommt ein politisch-demagogisches Prinzip ins Spiel, das in den 1950er-Jahren in den USA und auch in den 1970er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, der Epoche der „Berufsverbote“ den liberalen Diskurs zerstört hat: das Prinzip der „Kontaktschuld“. Hat jemand oder eine Gruppe auch nur den geringsten persönlichen Kontakt zu einer als feindlich definierten Gruppe beziehungsweise ihr nahestehenden Personen, dann gilt als ausgemacht, dass die Person oder Gruppe selbst eins zu eins identisch mit der kritisierten und abgelehnten Person oder Gruppe ist.

Es ist erstaunlich, dass liberale Persönlichkeiten wie Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) oder auch Ulrike Beisiegel, die Präsidentin der Universität, immerhin einer historischen Hochburg der Aufklärung, sich von derlei demagogischen Einwürfen beeindrucken lassen.

Um die Preisverleihung endgültig abzulehnen, müssten Universität und Stadt begründen, warum eine jüdische Initiative, obwohl sie nachweislich die Existenzberechtigung des Staates Israel nie und zu keiner Zeit in Zweifel gezogen hat, nicht preiswürdig sein soll. Gilt darüber hinaus die Forderung nach einem gerechten Frieden zwischen Juden und Palästinensern bereits als antisemitisch?

Wollten sich Stadt und Universität diese Meinung zu eigen machen, stünde fest, dass sie sich vom niedersächsischen Göttingen aus in den israelischen Wahlkampf einmischen – zugunsten des amtierenden Premiers Benjamin Netanjahu und seiner Verbündeten. Das kann nicht im Sinne von Stadt und Universität sein.

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71, hat an der Universität in Frankfurt/Main gelehrt und u.a. das dortige Fritz-Bauer-Institut geleitet. Er ist Senior Advisor am Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und taz-Kolumnist.

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