Kommentar Hartz-IV-Reformen: Armut schafft keine Arbeit

Es ist Unsinn, was CDU und SPD behaupten: Die Hartz-Reformen haben kein „Jobwunder“ ausgelöst. Über die Fehler der Bundesbank wird nie geredet.

Ein Nikolaus geht in Augsburg (Schwaben) zur Bundesagentur für Arbeit

Sicherer Arbeitsplatz? Auch Saisonjobs schützen nicht vor Armut Foto: dpa

Hartnäckig hält sich die Legende, dass die Hartz-Reformen ganz viele Stellen geschaffen haben sollen! Selbst SPD-Linke verbreiten diesen Unsinn. Karl Lauterbach sagte kürzlich im taz-Interview: „Hartz IV hat vor zehn Jahren die Löhne im unteren Bereich gesenkt. Deshalb ist die Arbeitslosigkeit gesunken.“

Tatsächlich stimmt nur, dass die Langzeitarbeitslosen durch Hartz IV verarmt sind. Ab Januar 2005 gab es im Westen nur noch 345 Euro, im Osten 331 Euro für einen Familienvorstand. Das reichte kaum zum Leben.

Jobs aber sind nicht entstanden. Lauterbach scheint zu glauben, dass es ein Land reich machen würde, wenn die Armut steigt. Wie verquer diese Logik ist, zeigt schon ein Blick nach Griechenland und Italien: Dort gibt es gar keine Unterstützung für Langzeitarbeitslose, also noch nicht einmal ein Hartz IV. Beide Länder müssten boomen, wenn es zutreffen würde, dass Jobs entstehen, sobald man die Sozialleistungen kürzt oder ganz streicht. Stattdessen verharren Griechenland und Italien in der Krise. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger twitterte ironisch: „Liebe SPD, Ihr könnt #HartzIV getrost entsorgen. Es ist nicht mehr als eine ökonomische Quacksalberei, für die es keine überzeugende empirische Evidenz gibt.“

Erfahrungsgemäß hat es jedoch wenig Zweck, überzeugten Hartz-Fans mit Fakten zu kommen. Sie haben ihre eigene Empirie – das magische Jahr 2005. Als die Reformen damals eingeführt wurden, man erinnert sich, wurden offiziell fünf Millionen Arbeitslose gezählt. Heute tauchen in der Statistik nur noch knapp 2,2 Millionen auf. Der Kurzschluss: Es muss den Hartz-Reformen zu verdanken sein, dass ihre Zahl so stark gesunken ist.

Kein aussagekräftiger Vergleich

An der zeitlichen Korrelation besteht kein Zweifel, doch es ist ein klassischer Denkfehler, chronologische Abfolgen automatisch für Kausalitäten zu halten.

Die Probleme beginnen schon mit der Statistik selbst: Wer wird eigentlich als Arbeitsloser betrachtet? Im Januar 2005 explodierten die Zahlen auf fünf Millionen, weil die Zählweise verändert wurde. Plötzlich galt jeder als arbeitslos, der theoretisch fähig war, mindestens 15 Stunden pro Woche erwerbstätig zu sein. Fast eine halbe Million Sozialhilfeempfänger wurden ad hoc zu Arbeitslosen gemacht.

Das war optisch sehr unschön, weswegen die Statistik inzwischen stark bereinigt wurde. Jetzt zählen rund 927.000 Erwerbsfähige nicht mehr als arbeitslos, weil sie in Fortbildungsmaßnahmen stecken, krank sind, älter als 58 Jahre sind oder einem Ein-Euro-Job nachgehen. Dem „Job-Wunder“ wurde also kosmetisch nachgeholfen; tatsächlich sind immer noch mehr als drei Millionen Menschen arbeitslos, wenn man die Kriterien von 2005 anlegt.

Ein Vergleich der Jahre 2005 und 2018 ist aber so aussagekräftig wie der zwischen Äpfeln und Birnen. 2005 war das vierte Krisenjahr in Folge, während die Wirtschaft derzeit blüht. Um den Hartz-Effekt abzuschätzen, müsste man also ein Boomjahr wie 2000 mit den heutigen Zahlen vergleichen. Dann aber stellt sich heraus: Hartz IV erklärt gar nichts.

Die Jahrtausendwende war eine seltsame Zeit

Im Jahr 2000 wurden insgesamt 57,96 Milliarden Stunden gearbeitet. Auf diesen Wert kam die deutsche Wirtschaft erst wieder 2014. Dazwischen gab es stets weniger Arbeit als zur Jahrtausendwende. Die Statistik gibt also nicht her, dass Hartz IV ab 2005 plötzlich ein „Jobwunder“ ausgelöst hätte. Stattdessen war ein anderes Phänomen zu beobachten: Es gab zwar Hartz IV, aber trotzdem keine Stellen.

Ein echter Job-Boom begann erst ab 2014. Dies war aber keine mystische Fernwirkung der Hartz-Reformen, sondern hat mit der Eurokrise zu tun, die auf Deutschland – zynischerweise – wie ein Konjunkturprogramm wirkt. Die Zinsen sind niedrig, was den Staat entlastet und Investitionen ankurbelt. Zudem ist der Euro im Vergleich zum Dollar billig, sodass die deutschen Waren auf den Weltmärkten günstig zu haben sind und die Exporte florieren.

Aber war Deutschland nicht der „kranke Mann Europas“, bevor die Hartz-Gesetze kamen? Die Jahrtausendwende war in der Tat eine seltsame Zeit: Wann immer man eine Talkshow anschaltete, war vom „Reformstau“ die Rede, Deutschland schien auf dem Weltmarkt keine Chancen mehr zu haben.

Dieser Eindruck war nicht ganz falsch. Deutschlands Exporte stagnierten ab 1991 tatsächlich abrupt. Dies hatte aber überhaupt nichts mit den Langzeitarbeitslosen zu tun – sondern mit der falschen Geldpolitik der Bundesbank, die die Zinsen in absurde Höhen schraubte.

Harmloser Kaufrausch des Ostens

Um die Geschichte von vorn zu erzählen: Die deutsche Einheit führte zu einer gewissen Inflation, weil plötzlich auch die Ostdeutschen auf den Markt drängten, die sich lang gehegte Konsumträume erfüllen wollten – von der neuen Küche bis zum modernsten Fernseher.

Die Fehler der Bundesbank sind tabu, über sie wird in Deutschland nicht geredet

Dieser Kaufrausch des Ostens war eigentlich völlig harmlos: Die Inflation stieg zwar zwischenzeitlich auf fünf Prozent, aber die Nachfrage verpuffte bald wieder. Die Bundesbank hätte also gelassen bleiben können, doch stattdessen geriet sie in Panik. Sie verkannte, dass die Wiedervereinigung eine historische Chance war, die mutig hätte gestaltet werden müssen, sondern starrte nur auf die Inflation – und setzte die Zinsen nach oben.

Damit würgte sie die Binnenkonjunktur ab, gleichzeitig stieg der Kurs der D-Mark, weil Finanzanleger aus der ganzen Welt nach Deutschland drängten, um von den satten Renditen zu profitieren. Durch die teure D-Mark wurden die deutschen Waren im Ausland aber immer kostspieliger, sodass auch die Exporte wegbrachen und die Arbeitslosigkeit noch weiter zulegte.

Doch über die Fehler der Bundesbank wird in Deutschland nie geredet. Das ist tabu. Stattdessen tun selbst SPD-Linke so, als wäre es richtig gewesen, Millionen von Arbeitslosen in die Armut zu stoßen.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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