Kommentar Hartz IV: Erst diffamieren, dann kürzen

Die Niveaulosigkeit, mit der bedürftige Menschen als Abzocker gebrandmarkt und Verfehlungen zur höchsten Gefahr für den Sozialstaat erklärt werden, ist kein Zufall, sondern folgt einem Kalkül.

Roland Koch, der Meister der kalkulierten Erregung, hat es mal wieder geschafft: Die Empörungsmaschinerie läuft. Hessens Ministerpräsident, die Bild-Zeitung und andere Interessierte versorgen sie mit immer neuem Treibstoff - mit steilen Thesen, mit Unterstellungen und Geschichten von Leuten, die mit Hartz IV scheinbar luxuriös auf Kosten der Allgemeinheit leben.

Die Niveaulosigkeit, mit der bedürftige Menschen als Abzocker gebrandmarkt und Verfehlungen zur höchsten Gefahr für den Sozialstaat erklärt werden, ist kein Zufall, sondern folgt einem Kalkül.

Koch und andere Protagonisten der schwarz-gelben Koalition bereiten die bevorstehenden Diskussionen um Umverteilungen vor. Wer Erwerbslose als Nichtstuer abwertet, setzt auf zwei Effekte: Er verschafft denjenigen, die noch Arbeit haben, einen Distinktionsgewinn. Und fördert ihre Bereitschaft, Zumutungen hinzunehmen, um den eigenen Status zu erhalten. Zudem bereitet er den Boden für Kürzungen, die bei vorab diskreditierten Gruppen leichter fallen. Beides ist wichtig für eine Regierung, die realisiert, dass sich Rekordschulden nicht dauerhaft mit Geschenken an die gehobene Mittelschicht verbinden lassen.

Vielleicht sollte Roland Koch einen Hartz-IV-Empfänger einmal persönlich zum Jobcenter begleiten. Er würde schnell merken, welche Zumutung es bedeutet, auf diese Grundsicherung angewiesen zu sein - und wie viel Fleiß damit verbunden ist, sie zu erhalten.

Das korrekte Ausfüllen eines Antrags erfordert wochenlange Recherche, genaue Kenntnisse der Gesetze und das Verständnis von juristischen Wortungetümen. An diesem Prozedere scheitern schon Akademiker. Für die häufig von Langzeitarbeitslosigkeit betroffene bildungsferne Klientel ist es vielfach schlicht undurchschaubar.

Dieser Irrsinn wird durch die jetzt anstehende Neuorganisation der Jobcenter noch verschärft, hier sind sich Betroffenenorganisationen einig. Noch mehr Papierkram, noch mehr Ansprechpartner und noch mehr Bürokratie. Anders gesagt: Die Politik schafft ein Monstrum und wälzt dessen Bändigung konsequent auf das Individuum ab. Vielleicht ist die wahre "Perversion des Sozialstaatsgedankens" eine andere, als Roland Koch meint: den Bürger zu zwingen, seine Existenz einem Bürokratismus anzuvertrauen, den er und viele seiner Verwalter schon lange nicht mehr verstehen.

Sabotiert wird der Sozialstaat durch die Bürokratie, nicht durch die Bedürftigen.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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