Kommentar Intervention in Libyen: Die Freiheit der anderen

Völkerrechtlich ist eine Militärintervention in Libyen unzulässig. Aber denkbar wäre, die Revolutionsregierung eines libyschen Teilstaats anzuerkennen und mit Waffen zu beliefern.

Der aus einem antityrannischen Aufstand erwachsene libysche Bürgerkrieg scheint derzeit in einem Patt zu stehen. Während die Weltgemeinschaft Gaddafi wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen will, ist ein militärischer Sieg der einen oder anderen Seite nicht in Sicht. Dafür hat sich ein Flüchtlingsproblem ungeahnten Ausmaßes entwickelt, das der Westen pflichtschuldig zu lösen versucht.

Die Wucht dieser humanitären Krise, die derzeit noch mit rein logistischen, nichtmilitärischen Mitteln mindestens gelindert werden kann, schenkt dem Westen eine Atempause, in der er das entscheidende politisch-moralische Problem umgehen kann.

Kann, soll und darf sich der Westen militärisch - und sei es "nur" mit einer vom Sicherheitsrat verhängten Flugverbotszone - in diesen Bürgerkrieg einmischen? Realpolitisch, mit Blick auf absehbare Folgen und nicht kalkulierbare Nebenfolgen, verbietet sich jede militärische Einmischung. D

as andauernde Desaster in Afghanistan, der Murks im Kosovo und der amerikanisch-britische Angriffskrieg gegen den Irak haben eindeutig bewiesen, dass derartige Kriege weder politisch noch militärisch zu gewinnen sind. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob nicht mindestens eine moralische Pflicht, die libyschen Rebellen zu unterstützen, besteht. Immerhin kämpfen sie in einem unverkürzten Sinn für die Freiheit von der Tyrannei, immerhin lassen sie es mindestens für möglich halten, dass dort eine Demokratie, eine Republik entsteht.

Auch Klugheitsgründe könnten für eine Intervention sprechen: Würden die siegreichen Rebellen dem Westen fortgesetzte Tatenlosigkeit nachsehen? Würde diese Tatenlosigkeit des Westens nicht ein weiteres Mal beweisen, dass das lauthals vorgetragene Eintreten für Demokratie und Menschenrechte nur Ideologie ist? Und so ein weiteres Mal den Islamismus stützen?

Nach den derzeit geltenden völkerrechtlichen Prinzipien ist eine "positive", auf die Herstellung von Demokratie und Republik zielende militärische Intervention aufgrund der Souveränität der Staaten nicht zulässig. Zulässig wäre sie nur - im Rahmen einer sich herausbildenden responsibility to protect - aus "negativen", abwehrenden Gründen, also zur Verhinderung genozidaler Taten einer Partei gegen Teile der Bevölkerung.

Derlei genozidale Verbrechen aber scheint Gaddafi derzeit nicht zu begehen; zudem werden zivile Opfer bei Bombenangriffen - siehe Israels Angriff auf Gaza, siehe Afghanistan - schließlich allseitig als "Kollateralschäden" hingenommen und nicht als Ausdruck genozidaler Politik bewertet.

Eine direkte militärische Intervention zugunsten der Aufständischen verbietet sich also aus realpolitischen und völkerrechtlichen Gründen. Das heißt aber nicht, dass der Westen, die EU, also auch Deutschland die Hände in den Schoss legen und sich auf das Retten von Flüchtlingen beschränken müssen. Immerhin wäre es denkbar, eine demnächst gebildete Regierung der libyschen Revolution sogar dann anzuerkennen, wenn sie noch nicht das ganze Territorium beherrscht.

In diesem Fall wäre es nur konsequent, dieser Regierung Waffen, vor allem Luftabwehrsysteme zu liefern, die den Druck von Gaddafis Luftwaffe mildern, wenn nicht sogar neutralisieren könnten. Im Zuge der demokratischen Transformation in Tunesien und Ägypten würde ein demokratischer libyscher Teilstaat mittelfristig nicht nur Legitimität, sondern sogar Attraktivität für die jetzt von Gaddafi beherrschte und bestochene Bevölkerung entwickeln.

Sofern die Weltgemeinschaft dann noch die Konsequenzen der internationalen Strafverfolgung Gaddafis eisern trägt und dessen Restregime konsequent boykottiert, dürften gute Chancen bestehen, diesen Despoten mittelfristig zum Aufgeben zu zwingen.

Über eines freilich muss man sich im Klaren sein: Auch eine solche unterhalb der Schwelle militärischer Intervention betriebene Politik dürfte das Anschwellen der Flüchtlingsströme verstärken und darüber hinaus den Benzinpreis merklich steigen lassen - mit Auswirkungen auf den wirtschaftllichen Aufschwung und Arbeitsplätze. Sind die Bevölkerungen und politischen Klassen der EU, Deutschlands bereit, diesen Preis zu zahlen? Ist uns die mögliche Freiheit der anderen so viel wert?

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1947 in der Schweiz geboren, seit 1952 in Frankfurt/Main. Studium der Philosophie und Pädagogik in Jerusalem und Frankfurt/Main. Nach akademischen Lehr- und Wanderjahren von 2000 bis März 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt/Main. Dort von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust. Forschung und Publikationen zu moralischer Sozialisation, Bildungsphilosophie sowie jüdischer Kultur- und Religionsphilosophie. Zuletzt Kritik des Zionismus, Berlin 2006, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts, Weinheim 2006 sowie Kurze Geschichte: Judentum, Berlin 2009, sowie Entstehung des Christentums, Berlin 2010.Darüber hinaus ist er Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik.“

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