Kommentar Merkels Flüchtlingspolitik: Fassade vor einer Ruine

Die Kanzlerin setzt auf Abschreckung. Ihre Wende hat sie ziemlich lautlos vollzogen. Für die Machtpolitikerin war es eine Meisterleistung.

Eine Person mit Kapuze über dem Kopf steht hinter einem Zaun

Griechenland wird für Flüchtlinge zur Sackgasse Foto: dpa

Angela Merkel hat sich monatelang von hysterische Medien und der CSU anhören müssen, dass sie alles falsch macht. Dass sie in Europa isoliert ist, handlungsunfähig und an ihrer Pastorentochtermoral gescheitert ist.

Es ist schon oft ein Fehler gewesen, die Kanzlerin als Machtpolitikerin zu unterschätzen. Die EU hat nun einen Deal mit der Türkei unterzeichnet, an dem die Bundesregierung maßgeblich mitgestrickt hat. Merkel ist damit der anvisierten europäischen Lösung nähergekommen. Das ist, angesichts von verstockten Regierungen, die von Warschau bis Wien die eigenen Grenzen verbarrikadieren, ein Erfolg.

Wir wissen noch nicht, wie resolut der Deal in Griechenland in den nächsten Wochen de facto umgesetzt wird. Es gibt dafür keine Blaupause. Falls dieses Abkommen vor Ort funktioniert, hat Merkel, was sie wollte: eine EU-Lösung ohne deklarierte Obergrenze. Und fast ohne Flüchtlinge. Denn die Chance, aus Syrien, Irak oder Afghanistan über die Türkei nach Europa zu kommen, wird dann nahe null liegen.

Nehmen wir an, der saudi-arabische Blogger Raif Badawi würde demnächst auf Lesbos landen. Auch er würde wohl umgehend in die Türkei zurücktransportiert. Denn die gilt ja (einzige Ausnahme: Kurden) nun als sicheres Drittland. Wenn sich keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland aufmachen, werden auch keine Syrer, die die EU im Tausch für Zurückgewiesene aufnehmen will, mehr kommen. Dieses Abkommen erinnert an den Asylkompromiss von 1993. Formal gibt es das individuelle Recht auf Asyl noch – aber nur als Fassade vor einer Ruine.

Opposition gesucht

Man gibt CSU-Mann Horst Seehofer ungern recht. Aber seine Bemerkung, dass Merkel ihre Politik komplett verändert hat, ohne dies zuzugeben, ist auf infame Weise zutreffend. Infam, weil er kräftig mitgewirkt hat, dass Merkel mit ihrem Ziel, großzügig Flüchtlinge aufzunehmen und in der EU zu verteilen, gescheitert ist. Aber das sind die Rechnungen von gestern.

Der EU-Türkei-Deal ähneltim Effekt dem Asylkompro-miss von 1993

Merkel setzt, ohne das Wort Obergrenze zu benutzen, auf Abschreckung. Sie hat diese Wende unfallfrei und ziemlich lautlos vollzogen. Taktisch eine Meisterleistung.

Fast ein halbes Jahr hat sich eine ganz große Koalition von der CDU über Rot-Grün bis zu Linksparteirealos hinter der Kanzlerin versammelt. Vorbei, passé. Wir brauchen wieder eine Opposition.

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Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.

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