Kommentar Proteste gegen Flüchtlinge: Anwohner und Kinder zuerst

Neonazis organisieren Proteste gegen Flüchtlinge. Sie tarnen sich als „Anwohner“ und argumentieren mit dem Wohl von Kindern.

Berlin-Marzahn: Hier gibt es jede Menge Anwohner und Kinder Bild: dpa

Seit einigen Wochen gibt es in Ostberliner Vierteln wie Marzahn, Köpenick und Buch Proteste gegen geplante Flüchtlingsunterkünfte, am Samstag soll ab 14 Uhr eine zentrale Demonstration in Marzahn stattfinden. Die Organisatoren fordern die Teilnehmer ausdrücklich dazu auf, nicht mit der Presse zu reden.

Bei der Demonstration am Montag war dies noch nicht der Fall. Wer sich dort unter den Demonstranten umhörte, stieß auf zwei zentrale Begriffe: Auf der Straße sind Anwohner. Und zwar wegen der Kinder.

Beide Begriffe sind anschlussfähig bis weit in Milieus, die weit weg sind vom proletarisch-ostdeutschen Dumpfbackentum. Und als politische Kategorie sind beide Begriffe tendenziell autoritär. Der Anwohner ist das Gegenstück zum Citoyen. Wo der Citoyen sich nicht wegen seiner partikularen Interessen, sondern als Teil des Ganzen in öffentliche Belange einmischt, wedelt der Anwohner mit der Hausordnung herum und verlangt Ruhe und Ordnung. Argumente braucht der Anwohner nicht, er ist ja Anwohner.

Wenn der Anwohner dennoch ein Argument bemüht, dann am liebsten das mit den Kindern. Auch die Neonazis haben kapiert: Wer irgendeine Gemeinheit im Sinn hat, argumentiert am besten mit dem Wohl der Kinder. Die können nicht widersprechen. Kein Wunder, dass bei der „Montagsdemo" in Marzahn ein YouTube-Hit des Nazirappers „Villain051" gespielt wurde : „Für unsere Kinder." Auch das Lied, das er inzwischen zusammen mit der Rechtsrockband „Wut aus Liebe" eigens für die Proteste gegen Flüchtlinge aufgenommen hat, beginnt gleich mit den Kindern.

Der Mob, der sich im Berliner Osten zusammenbraut, besteht nicht allein aus organisierten Nazis. Genau darin liegt die Gefahr. Doch die Trennung zwischen „besorgten Anwohnern" und Rechtsextremisten, wie sie Innensenator Henkel vornimmt, ist absurd. Schließlich können Anwohner zugleich rechtsextrem oder rassistisch sein. Und Nazis sind auch Anwohner, irgendwo ganz bestimmt und nicht selten eben in Marzahn.

Ein Hauch von Rostock

Ein wenig erinnert die Stimmung in Ostberlin (und erst recht in Dresden) an Rostock '92. Dennoch wäre es falsch zu glauben, dass die Proteste gegen Flüchtlinge bloß eine Sache der ostdeutschen Unterschicht wäre. So gab es 2014 im reichen Bad Soden bei Frankfurt am Main Proteste gegen eine Containerunterkunft. Keine Nazis, sondern ganz gewöhnliche Anwohner, geleitet von ganz gewöhnlichem Ressentiment.

Andererseits ist im Osten ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall die Scheu, gemeinsame Sache mit Neonazis zu machen, geringer als im Westen. Dazu müssen die Neonazis nur auf allzu offensichtliche Symbolik verzichten - worauf die Organisatoren großen Wert legen. Und sie müssen versuchen, sich nicht nach Nazis anzuhören. Sondern nach Anwohnern in Sorge um die Kinder.

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Von Juli 2007 bis April 2015 bei der taz. Autor und Besonderer Redakteur für Aufgaben (Sonderprojekte, Seite Eins u.a.). Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2011. „Journalist des Jahres“ (Sonderpreis) 2014 mit „Hate Poetry“. Autor des Buches „Taksim ist überall“ (Edition Nautilus, 2014). Wechselte danach zur Tageszeitung Die Welt.

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