Kommentar Proteste in Belgrad: Jugendrevolte in Serbien

Tausende protestieren gegen Regierungschef Vučić, es ist aber vor allem ein Protest gegen die Ausweglosigkeit der herrschenden Verhältnisse.

Eine Frau hält Protestplakat hoch

Tausende proetstieren am vergangenen Samstag in der Belgrader Innenstadt gegen Regierungschef Aleksandar Vučić Foto: ap

Die Wahlen und der Wahlausgang in Serbien bieten viel Anlass zum Protest. Der Vorwurf der nun schon eine Woche lang Demonstrierenden, die Wahlen seien gefälscht, ist ja auch keineswegs von der Hand zu weisen. Allein schon die Tatsache, dass über 800.000 „tote Seelen“ wahlberechtigt sind – darunter sogar im 19. Jahrhundert geborene Wähler – lässt die Zweifel an den Wahlen durchaus als berechtigt erscheinen.

Da es Regierungschef Aleksandar Vučić in den letzten Jahren zudem gelungen ist, den gesamten Staatsapparat und die Massenmedien zu kontrollieren, muss man in Serbien zwar noch nicht von einer Diktatur, jedoch schon von einer „Demokratur“ sprechen.

Der Ruf der zumeist spontan sich treffenden jugendlichen Demonstranten nach dem Rücktritt des Alleinherrschers spiegelt jedoch nicht nur die Sehnsucht nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wider. Dies bestimmt auch. Dass diese Bewegung keiner Partei der Opposition von rechts oder links zuzuordnen ist, deutet aber auf die unendliche soziale Frustration eines Teils der Jugend hin, die sich nicht mehr einordnen will.

Angesichts der Arbeitslosigkeit vor allem junger Menschen, angesichts der Tatsache, dass Jobs nur über das Parteibuch oder die Fürsprache der herrschenden Partei zu erlangen sind und die Korruption in allen gesellschaftlichen Bereichen erfahrbar ist, steht hinter den Demonstrationen das Gefühl einer Ausweglosigkeit, das ohne ideologischen Hintergrund die Systemfrage stellt.

Viele entscheiden sich, das Land zu verlassen. All dies gilt nicht nur für Serbien, sondern für fast alle Staaten Südosteuropas. Zehntausende gut ausgebildeter junger Menschen verlassen jährlich die jeweiligen Staaten mit allen negativen Rückwirkungen, die ein solcher massiver Braindrain mit sich bringt. Der ist bisher das Ventil. Wer aber bleiben und sich nicht opportunistisch beugen will, muss kämpfen.

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Erich Rathfelder ist taz-Korrespondent in Südosteuropa, wohnt in Sarajevo und in Split. Nach dem Studium der Geschichte und Politik in München und Berlin und Forschungaufenthalten in Lateinamerika kam er 1983 als West- und Osteuroparedakteur zur taz. Ab 1991 als Kriegsreporter im ehemaligen Jugoslawien tätig, versucht er heute als Korrespondent, Publizist und Filmemacher zur Verständigung der Menschen in diesem Raum beizutragen. Letzte Bücher: Kosovo- die Geschichte eines Konflikts, Suhrkamp 2010, Bosnien im Fokus, Berlin 2010, 2014 Doku Film über die Überlebenden der KZs in Prijedor 1992.

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