Kommentar Proteste in Türkei: Weiter, was denn sonst?

Die Besetzer des Gezi-Parks bleiben, denn Erdogan hat keine Zugeständnisse gemacht. Sie haben viel erreicht - und dafür bezahlt. Jetzt müssen sie sich auf Minimalziele einigen.

Sie kämpfen weiter: DemonstrantInnen in Istanbul. Bild: dpa

Die Besetzerinnen und Besetzer des Gezi-Parks machen weiter. Warum sollten sie auch aufhören? Denn anders als viele, gerade ausländische Medien vermeldet haben, hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan keinerlei Zugeständnisse gemacht. Er hat lediglich angekündigt, die Urteile des anhängigen Gerichtsverfahrens abzuwarten.

Wer darin ein Entgegenkommen erkennt, ist entweder naiv oder hat nur geringe Ansprüche an den türkischen Rechtsstaat. Denn was wäre das Gegenteil dieser Einlassung? Ein Ministerpräsident, der öffentlich sagt, dass er auf rechtskräftige Urteile pfeift?

Die Menschen vom Gezi-Park haben jetzt schon viel erreicht. Sie haben sich nicht einschüchtern lassen vor einer entfesselten Polizeigewalt, haben jeden Meter, den sie im Gasnebel aufgeben mussten, zurückerobert; sind nach jedem brutalen Einsatz in noch größerer Zahl auf die Straße gegangen.

Das gilt für die Menschen in Istanbul, das gilt aber umso mehr für die tapferen jungen Leute in Ankara, die sich seit zwei Wochen Abend für Abend der Polizeigewalt aussetzen und dabei − obwohl sie in der Hauptstadt leben − von der türkischen wie der internationalen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen werden.

Und sie haben dafür bezahlt: Mit ihrer Gesundheit, mit ihrem Augenlicht, mit ihrem Leben. Am Freitag wurde der Tod von Ethem Sarisülük bestätigt, der in den ersten Tagen des Proteste in Ankara von einem Polizisten angeschossen worden war und seither im Koma gelegen hatte. Der vierte Tote.

All das nicht allein wegen eines − übrigens nicht allzu hübschen − Parks inmitten von Istanbul. Schon seit der ersten brutalen Räumung der Parkbesetzer geht es um mehr. Es geht darum, dem selbstherrlichen Ministerpräsidenten und seiner Diktatur der Mehrheit deutlich zu machen, dass er nicht alles so machen kann, wie es ihm gerade passt.

Erdogan hat seine Haltung nicht geändert

Dass Erdogan in der vergangenen Woche eine mehr oder minder legitimierte Abordnung der çapulcu, der „Marodeure“, empfing, war zwar ein symbolischer Erfolg im Kampf um Anerkennung.

Aber in seiner Rede vom Freitagnachmittag hat Erdogan gezeigt, dass er seine Haltung nicht geändert hat. Er wiederholte nicht nur sämtliche seiner Verschwörungstheorien (verantwortlich für die Proteste seien die „Finanzlobby“ und „ausländische Kräfte“) und Propagandabehauptungen (zum Beispiel die, dass Demonstranten, die vor der Polizei in eine Moschee geflüchtet waren, dort Bier getrunken hätten, was der Imam der betreffenden Moschee vehement bestreitet) der vergangenen Wochen. In einem Nebensatz sagte er wörtlich − und das war die ehrlichste Passage seiner Rede −, dass er im Grunde nicht verstanden habe, worum es den Demonstranten gehe.

Natürlich würden die am liebsten die Regierung stürzen. Doch trotz der Unterstützung, die sie in allen gesellschaftlichen Schichten genießen, wird es dafür im Moment nicht reichen. Dafür genießt Erdogan immer noch zu viel Zuspruch in einem großen Teil der Bevölkerung. Das wissen die Demonstranten, auch wenn es nicht alle wahr wollen.

Liste der Forderungen

Der mehr oder minder lose Zusammenschluss namens „Taksim-Solidarität“, auf dessen Schultern ein großer Teil der Verantwortung für den Aufstand lastet, hat vier (eigentlich fünf) Forderungen formuliert: Einstellung aller Bebauungspläne für den Gezi-Park, die Öffnung alles städtischen Plätze für Kundgebungen und Demonstrationen, das Verbot des Einsatzes von chemischen Kampfstoffen, die Freilassung aller in den vergangenen Wochen festgenommenen Demonstranten sowie die Entlassung der Gouverneure von Istanbul, Ankara, Adana und Hatay, welche für die unverhältnismäßig harten Polizeieinsätze verantwortlich sind.

Das kann man so machen. Aber anstatt diese Liste, wie in diesen Tagen im Gezi-Park diskutiert wird, noch um dit und dat (dritte Bosporusbrücke, neuer Flughafen etc.) zu ergänzen, täten die Besetzerinnen und Besetzer gut daran, für sich ihre Minimalziele klar zu definieren. Wenn sie sich mit zwei, drei oder vier Forderungen durchsetzen würden, hätten sie tatsächlich viel gewonnen.

Das wäre der Moment, den sie nicht verpassen dürften. Der Moment, an dem sie sich mit großen Partys auf dem Taksim-Platz, dem Kizilay-Platz in Ankara, den Plätzen in Tunceli, Eskisehir, Bolu zurückziehen könnten; im Wissen, dass sie jederzeit zurückkommen zu können. Aber dieser Moment ist noch lange nicht gekommen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Von Juli 2007 bis April 2015 bei der taz. Autor und Besonderer Redakteur für Aufgaben (Sonderprojekte, Seite Eins u.a.). Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2011. „Journalist des Jahres“ (Sonderpreis) 2014 mit „Hate Poetry“. Autor des Buches „Taksim ist überall“ (Edition Nautilus, 2014). Wechselte danach zur Tageszeitung Die Welt.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.