Kommentar Proteste zur Fußball-WM: Die Massen bleiben zu Hause

So viele, wie vor einem Jahr in Brasilien auf die Straße gingen, werden es während der WM nicht sein. Aber der Protest ist politischer geworden.

Die Strategie der Polizei wird sich zur WM nicht ändern. Bild: reuters

Nein, die Massen werden nicht auf die Straßen gehen. Niemand in Brasilien erwartet Demonstrationen mit Hunderttausenden, wie sie im Juni 2013 völlig überraschend ein heftiges politisches Erdbeben ausgelöst haben. Die Probleme sind die gleichen, der Unmut ist sogar größer. Doch seit dem Confed-Cup ist ein Jahr vergangen, die politischen Vorzeichen haben sich verändert. Und mit ihnen die Dynamik der Proteste.

Die Debatte über die Missstände der Fußball-WM und wie sehr die Bevölkerung von dem Spektakel profitieren kann, ist politischer Alltag geworden. Damit gerieten auch Kritik und Proteste ins Fahrwasser althergebrachter Muster. Das Links-rechts-Schema ist weitgehend wiederhergestellt, die Geht-mich-nichts-an-Fraktion stellt die Mehrheit.

Zwar ist Konsens, dass mit dieser WM vieles nicht stimmt – ein Riesenerfolg der Juni-Demos, die weniger „Sozialproteste“ waren als eine Gelbe Karte der aufstrebenden Mittelschicht für abgehobene Politiker und falsche Versprechen. Aber der Protest hat sich zerstreut, und die Regierung ist vorgewarnt.

Die Mobilisierung wird vor allem von sozialen Bewegungen getragen, von denen viele den Confed-Cup verschlafen hatten und teilweise wegen ihrer Nähe zu den linken Regierungsparteien und ihrer roten Fahnen von den Großdemos vertrieben wurden. Ein aktuelles Beispiel ist die Bewegung für Wohnraum. Ähnlich wie die Landlosenbewegung MST besetzt die Bewegung Obdachloser Arbeiter („Movimento dos Trabalhadores Sem Teto“) leerstehende Gebäude und Stadtflächen und führt insbesondere in der Metropole São Paulo die größten Protestmärsche mit bis zu 20.000 Teilnehmern an.

Vielen ist der Protest zu links

Der Protest ist politischer geworden und hat sich die Forderungen der WM-kritischen Komitees zu eigen gemacht. Die klare linke Ausrichtung wird aber viele Unzufriedene davon abhalten, auf die Straße zu gehen. Hinzu kommt die Angst vor Gewalt, sowohl der Polizei wie des Schwarzen Blocks. Seit Monaten setzt die Regierung auf diesen Hebel, indem sie den Unmut in gute und böse Demonstranten spaltet und ostentativ ein hartes Durchgreifen ankündigt. Nicht zuletzt hat auch die Furcht vor Imageschäden der Lust vieler am Demonstrieren einen Dämpfer versetzt.

Die Streiks wiederum, die in den vergangenen Wochen das Bild eines Landes im Aufruhr vermittelten, sind nicht unbedingt Proteste gegen die Fifa-Missstände. Zwar gehört eine gerechtere Verteilung des Wohlstands zu den Forderungen, viele Gewerkschafter nutzen die Aufmerksamkeit aber taktisch für eigene Interessen. Das gilt für die Polizei sowie Bus- wie U-Bahn-Fahrer.

Diese Polizisten haben nichts mit der Protestbewegung gemein, und die Busfahrer haben mehrheitlich entschieden, ihre Demos vom WM-Protest fernzuhalten, um „die Anliegen nicht zu vermischen“. Nur die Lehrergewerkschaft in Rio, der es neben Löhnen auch um eine Bildungsreform geht, fühlt sich explizit als Teil der WM-Kritik. Da das Gros der Gewerkschaften der regierenden Arbeiterpartei PT nahesteht, dürfte es dieser gelingen, spektakuläre Ausstände während der WM mit Verhandlungen hinter den Kulissen zu verhindern.

Auch die Rechte wird anders als 2013 nicht darauf setzen, die Proteste inhaltlich zu vereinnahmen und dann zu puschen. Vielmehr hofft sie darauf, dass Pannen und Gewaltausbrüche das Image der PT-Regierung weiter beschädigen. Brasilien-Fahnen und gelb-grün bemalte Gesichter werden statt auf den Demonstrationen vor allem vor den Fernsehern Präsenz markieren.

Die Polizei wird nichts ändern

Unklar allerdings ist, wie die Mobilisierung in den sozialen Netzwerken sein wird. Bisher ist es dort erstaunlich ruhig, doch das war vor dem Confed-Cup ähnlich. Nur eines wird sich mit Sicherheit wiederholen: überzogene und brutale Polizeieinsätze. Die könnten ähnlich wie 2013 wieder mobilisierend wirken.

Das gilt auch für Aufstände in den Favelas, wie im April, als an der Copacabana ein beliebter Tänzer unter ungeklärten Umständen erschossen wurde. Mit brennenden Barrikaden an den Übergängen von Touristen- und Armenvierteln ist nur zu rechnen, wenn die Polizei dazu Anlass gibt.

Die Geschichte wird sich also auch in Brasilien nicht wiederholen. Trotzdem wird es viel und vielfältigen Protest geben. Und das historisch erstmalig aus Anlass einer Fußball-WM.

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Journalist und Soziologe, lebt seit neun Jahren in Rio de Janeiro und berichtet für Zeitungen, Agenturen und Radios aus der Region. Arbeitsschwerpunkt sind interkulturelle Medienprojekte wie der Nachrichtenpool Lateinamerika (Mexiko/Berlin) und Pulsar, die Presseagentur des Weltverbands Freier Radios (Amarc) in Lateinamerika.

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