Kommentar Schengen-Abkommen: Ein Notfall namens Fremdenfeindlichkeit

Das neue Schengen-Abkommen wurde von Deutschland und Frankreich durchgesetzt. Nicht die Fremden sind der „Notfall“ in Europa, sondern die Fremdenfeindlichkeit.

Mit pompösen Worten wird Europa immer dann beschworen, wenn es um den Euro geht. Denn diese „Säule der EU-Integration“ garantiert den Erfolg der Exportnation Deutschland. Bei einer anderen Säule Europas sind die Hemmungen, die Abrissbirne zu betätigen, deutlich niedriger: „Im Notfall“ sollen die EU-Staaten ihre Binnengrenzen wieder eigenmächtig kontrollieren dürfen – das haben Deutschland und Frankreich gegen heftigen Widerstand aus Brüssel durchgesetzt.

Als Notfall soll gelten, wenn die EU-Außengrenzen, etwa in Italien oder Griechenland, nicht ausreichend gesichert werden. Was als „nicht ausreichend“ anzusehen ist, entscheidet man in Paris und Berlin nach Gutdünken. Es ist abzusehen, dass ein striktes Grenzregime entstehen wird. Denn in den letzten Jahren wurde die Zahl der ankommenden Papierlosen stets als dramatisch hoch empfunden.

Dieser gefühlte Ansturm entspricht jedoch nicht den Realitäten. 2011 sind nur 140.000 Menschen illegal in das Schengen-Gebiet eingereist, 147.000 wurden gleichzeitig ab- oder zurückgeschoben. Frontex funktioniert also schon jetzt, die tödlichen Folgen inklusive.

ist Redakteur bei taz1.

Zudem reisen viele illegal ein, weil ihnen der legale Zutritt verwehrt wird. Das restriktive Visaregime macht es fast unmöglich, nach Europa zu gelangen. Dabei haben nur die wenigsten vor, auf Dauer zu bleiben. Viele wollen einfach nur vorübergehend einer Arbeit nachgehen.

Statt einen herbeifabulierten Flüchtlingsstrom zu stoppen, ging es Deutschland und Frankreich wohl vor allem darum, die innere Statik der EU zu verschieben: Die Kompetenzen der Einzelstaaten wachsen, während die EU-Kommission – die Schengen nicht verwässern wollte – nun Macht abgeben muss.

Gleichzeitig werden Frankreich und Deutschland den Dauerstreit mit den Peripheriestaaten los. Seit Langem beklagen Italien und Griechenland, dass sie bisher allein dafür zuständig waren, die illegalen Einwanderer abzufangen. Diese sehr kommode Regelung mussten Berlin und Paris zuletzt gegen immer stärkeren Druck verteidigen. Jetzt sind Rom und Athen wieder in der Defensive, denn Deutschland und Frankreich verbreiten die Legende, nur weil die Peripheriestaaten so unfähig seien, müsse Europa seine schöne Freizügigkeit aufgeben.

Nicht die Fremden sind der „Notfall“ in Europa. Vielmehr ist es die Fremdenfeindlichkeit.

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Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social

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