Kommentar Tödliche Polizeischüsse: Gefährlich überfordert

Seit 1990 wurden mindestens 269 Menschen von Polizisten erschossen. Hinter den „Einzelfällen“ stehen strukturelle Pro­bleme.

Ein Polizist steht vor einer Plane, die das Tor zum Haus vom Erschossenen Tenessee Eisenberg abdeckt

Auf den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sind Polizisten nur unzureichend vorbereitet – wie hier im Fall Tennessee Eisenberg Foto: dpa

Duisburg, 7. Januar. Berlin, 31. Januar. Herten, 19. Februar. Gortz, 13. ­April. Herne, 16. April. Essen, 27. April. Emmendingen, 4. Mai. Sieben Menschen haben Polizisten in Deutschland seit Jahresbeginn erschossen. Sieben Einzelfälle – mit auffälligen Gemeinsamkeiten: Bei sechs Toten gibt es Hinweise auf eine psychische Erkrankung, ebenfalls sechs waren mit einem Messer bewaffnet. Außer bei einem SEK-Einsatz waren die Schützen normale Streifenpolizisten.

Niemals in den vergangenen 27 Jahren gab es zu diesem Zeitpunkt des Jahres so viele Polizeitote. Damit setzt sich ein Trend fort, der sich neuerdings andeutete. Die Zahl der bei Einsätzen erschossenen BürgerInnen steigt. Dem Ausmaß tödlicher Polizeischüsse in Deutschland ist die taz in einem Rechercheprojekt nachgegangen. Das Ergebnis: Seit 1990 wurden mindestens 269 Menschen von Polizisten erschossen; durchschnittlich ein Toter alle fünfeinhalb Wochen.

Sämtliche Fälle wurden hier zusammengetragen und ausgewertet. Dadurch wird eine Problematik offengelegt, die es hierzulande kaum ins öffentliche Bewusstsein schafft. Tote durch Polizeischüsse werden eher als US-amerikanisches Pro­blem betrachtet, nicht als deutsches.

Die Daten zeigen: Nur fünf der Opfer waren Frauen. Nur eine Minderheit der Erschossenen hatte selbst eine Schusswaffe, am häufigsten war die Bewaffnung mit Messern. Verbrechen wie Einbrüche, Überfälle oder Geiselnahmen gehen einem tödlichen Schusswaffeneinsatz nur selten voraus, dagegen sterben viele bei Einsätzen in ihrem privaten Umfeld. Und immer öfter trifft es dabei Menschen mit psychischen Erkrankungen. Mehr als die Hälfte der Opfer der vergangenen Jahre fällt in diese Kategorie.

Hinter den „Einzelfällen“, die von der Polizei kaum systematisch hinterfragt werden, stehen strukturelle Pro­bleme. Auf den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sind Polizisten in Deutschland nur unzureichend vorbereitet. Oft führt erst ihr Fehlverhalten zu einer Situation, in der die Schussabgabe als letzter Ausweg erscheint. Manch ein Beamter bezahlt seinen Einsatz selbst mit einem psychischen Trauma. Mit strafrechtlichen Konsequenzen muss dagegen kaum einer von ihnen rechnen.

Die Politik tendiert dazu, die Spielräume der Polizei immer weiter zu vergrößern, auch die gesellschaftliche Sensibilität für die Anwendung polizeilicher Gewalt sinkt. Gleichzeitig liegen Verbesserungsvorschläge auf dem Tisch: Die Aus- und Fortbildung von Polizisten, insbesondere im Umgang mit psychisch kranken Menschen, muss intensiviert werden. Ebenso braucht es unabhängige Polizeibeschwerdestellen mit dem Recht, eigenständig zu ermitteln und die strafrechtlichen Ermittlungen zu überwachen.

Denn erst ein umfassendes Wissen über die Todesfälle schafft die Voraussetzung dafür, dass künftig weniger Menschen ihr Leben verlieren.

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Redakteur für parlamentarische und außerparlamentarische Politik in Berlin, für Krawall und Remmidemmi. Schreibt über soziale Bewegungen, Innenpolitik, Stadtentwicklung und alles, was sonst polarisiert. War zu hören im Podcast "Lokalrunde".

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