Kommentar Wahlen in Liyben: Libyen startet am Punkt Null

Trotz freier Wahlen geben sich die Libyer keinen Illusionen hin, welche Aufgaben bevorstehen. Bestenfalls wird jetzt eine Verfassung im nationalen Konsens geschaffen.

Mit Gaddafis Sturz wurde der Knopf der staatlichen Ordnung in Libyen auf „Reset“ gedrückt. Dass nur neun Monate nach dessen Tod ein im Großen und Ganzen landesweit friedlicher, freier und fairer Wahlgang stattgefunden hat, ist für das nordafrikanische Land eine enorme Errungenschaft.

Störkationen, im Osten des Landes, auch wenn sie gewalttätig waren, blieben die ganz große Ausnahme. In 98 Prozent der Wahllokale des Landes wurde gewählt, gaben die Menschen das erste Mal nach 40 Jahren Gaddafi-Diktatur oft mit großen Emotionen ihre Stimmen ab. Nicht nur im westlichen Tripolis, selbst in der ostlibyschen Metropole Bengasi, dem Herzen einer kleinen Separatisten-Bewegung, die dort eine sehr kleine, aber laute Minderheit darstellt, feierten die Menschen nach erfolgreichem Wahlgang auf den Straßen.

Derweil geben sich die Libyer keinen Illusionen hin, welche schweren Aufgaben ihnen bevorstehen. Die Milizen der Rebellen von einst müssen entwaffnet und die jetzt auch demokratisch legitimierte staatliche Autorität, muss als oberste Ordnungsmacht durchgesetzt werden. Der Angst des seit Jahrzehnten unter Gaddafi benachteiligten Osten des Landes, in der neuen Ordnung erneut den Kürzeren zu ziehen, muss Rechnung getragen werden. Der Platz das zu regeln, wird die jetzt zu schreibende libysche Verfassung sein. Der Streit, um Zentralstaat oder Föderalismus ist vorgezeichnet. Bestenfalls wird jetzt eine Verfassung im nationalen Konsens geschaffen, in der auch die weit von Tripolis entfernten Provinzen zu ihrem Recht kommen werden.

Die libysche Gesellschaft ist islamisch konservativ, dementsprechend wird auch die politische Ausrichtung des ersten Parlaments aussehen.

Von allen arabischen Ländern, die ihre Diktaturen gestürzt haben, ist Libyen das Land, das wirklich beim Nullpunkt anfangen musste. Gaddafi war der Staat, der Staat war Gaddafi. Natürlich bedeutet das, dass zunächst die staatliche Ordnung völlig neu aufgebaut werden, Milizen entwaffnet und das Machtverhältnis zwischen Zentrale und Provinzen neu ausgehandelt werden muss.

Aber Libyen hat einen entscheidenden Startvorteil. Die Ägypter kämpfen gegen ihre Generälen und Überbleibsel des alten Regimes in den staatlichen Institutionen für einen wirklichen Wandel. Die Libyer dagegen müssen nicht nur, sie dürfen auch tatsächlich bei Null anfangen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.