Kommentar die Armut wächst: Geschönte Statistik

Die Ungleichheit bei der Einkommensentwicklung ist sogar noch geschönt. In Wahrheit ist die Lücke zwischen Arm und Reich weitaus größer.

Die Armut wächst in Deutschland. Das ist keine ganz frische Erkenntnis, aber sie wird mit immer neuen Zahlen belegt. Dabei zeigt sich, dass gleich zwei Phänomene die Masse der Armen anschwellen lassen: Nicht nur steigt die Zahl der Geringverdiener - zugleich nimmt auch das Realeinkommen dieser Niedriglöhner ab. Die Stundenlöhne des untersten Einkommensviertels sind 1995 bis 2006 real um ein Zehntel gesunken, haben nun Forscher der Uni Duisburg-Essen ermittelt. Das oberste Viertel hingegen konnte ein reales Plus von knapp 11 Prozent bei seinen Stundenlöhnen verbuchen.

Übrigens - kleiner Einschub - ist selbst der 11-Prozent-Zuwachs bei den Bestverdienern nicht wirklich beeindruckend, denn die deutsche Wirtschaft legte im gleichen Zeitraum rund doppelt so stark zu. Sogar den hochqualifizierten Angestellten ist es also offenbar nicht gelungen, sich einen gerechten Anteil an der Wirtschaftsleistung zu sichern. Übersetzt bedeutet das: Profitiert haben vor allem die Unternehmer und Aktionäre. Die Ungleichheit bei der Einkommensentwicklung wird also noch geschönt, wenn man nur die Stundenlöhne betrachtet. In Wahrheit ist die Lücke zwischen Arm und Reich weit größer.

Deswegen ist auch keineswegs ein Skandal, was zunächst wie ein Skandal aussehen könnte: Die Steuerlast ruht nur auf wenigen Schultern. Das reichste Viertel der Steuerpflichtigen zahlt bereits 80 Prozent aller Einkommensteuern, teilte das Statistische Bundesamt am Montag mit. Die Lobbyisten der Besserverdienenden beschwerten sich natürlich prompt über diese angebliche Ausbeutung. Doch tatsächlich spiegelt sich im Steueraufkommen nur wider, wie ungerecht es in der Gesamtgesellschaft inzwischen zugeht. Die Hälfte der Steuerzahler verdient im Jahr weniger als 23.000 Euro - da ist es kein Wunder, wenn sie kaum noch Geld an den Staat abführen können.

Diese Statistiken machen sehr deutlich, welche Themen den Bundestagswahlkampf dominieren werden: Die Union wird sich nicht um die Frage eines Mindestlohns drücken können - und alle Parteien werden erklären müssen, wie sie mehr soziale Gerechtigkeit erreichen wollen.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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