Kommentar jüdische Diaspora: Netanjahus purer Fundamentalismus

Die jüdische Diaspora nach den Wahlen: Die Distanz zu der noch stärker nationalreligiös orientierten Regierung in Jerusalem wird nicht geringer.

In den USA lebt die größte jüdische Diaspora. Bild: dpa

Nach seinem unerwarteten Wahlsieg vollzog Benjamin Netanjahu zwei symbolische Handlungen, die wenig Gutes verheißen. Er besuchte die Klagemauer in Jerusalem und ließ sich dabei filmen, wie er einen Zettel in die Außenmauer des Herodianischen Tempels steckte. Fromme Juden hinterlassen hier persönliche Bitten, manche auch politische Wünsche. Eine abergläubische, götzendienerische Praxis.

Noch schwerwiegender dürfte eine bislang kaum beachtete Äußerung des Premiers anlässlich dieses Besuchs sein: „Here in this place“, so Netanjahu, „I am awed by the historical significance of a people renewing itself in its homeland after 4.000 years.“

Indem er seinen Wahlsieg, den er auch seiner eindeutigen Ablehnung jeder Zweistaatenlösung verdankte (die er jetzt gegenüber amerikanischen Medien in Teilen wieder revidierte), mit einer Erneuerung des jüdischen Volks gleichsetzte, beschwor er nicht nur einen nationalreligiösen Mythos, sondern untermauerte damit seine Absicht, die besetzten palästinensischen Gebiete nicht mehr zurückzugeben. Auch sonst nahm er in vielen Reden Bezug auf die Geschichte des im Herzen des Westjordanlands gelegenen Hebron und der biblischen Erzväter.

Das aber ist mythische Politik. Netanjahus Mythos wird dabei von keiner historischen Forschung gedeckt, sondern erweist sich als purer Fundamentalismus: Als „Juden“ sind Juden keine 4.000 Jahre lang bekannt. Ausweislich der biblischen Bücher, vor allem Jeremia (44,1) sowie des Buchs Ester (3,6), waren „Juden“ die dem Gott Israels verpflichteten exilierten Bewohner der persischen Provinz Jehud. Es war der Prophet Jeremia, der als Erster eine Theologie und Theorie der jüdischen Diaspora artikulierte. Diese aber ist heute aktueller denn je.

Denn mit seinen Plänen, Israel per Gesetz zum Staat der jüdischen Nation zu erklären, hat Netanjahu gezielt die universalistischen, moralischen Werte des Judentums aufgekündigt. Im Buch Exodus (23,9) werden die Kinder Israels ermahnt, Fremde nicht zu bedrängen, waren sie doch selbst Fremde in Ägypten! Entsprechend hat die israelische Sozialdemokratin Shelly Jachimowicz über Netanjahus Warnungen vor den israelischen Arabern bemerkt, dass kein westlicher Politiker sich je trauen würde, derart rassistisch daherzureden.

Die Männer vom Islamischen Staat sind Bestien, oder? Unsere Autorin berichtet seit vier Jahren aus Syrien und sieht das anders. Warum, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 21./22. März 2015. Außerdem: Manche Impfgegner bezweifeln, dass es Masern überhaupt gibt. Wir haben einige der schärfsten Kritiker besucht. Und: Martin Walser wird 88 Jahre alt. Ein großer Romancier, bei uns mal ganz knapp und präzise im Gespräch. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Entweder hat Bibi gelogen oder er lügt jetzt

Was für die aufgeklärten Bürger Israels gilt, gilt allemal für die größte jüdische Diaspora, die USA. Zwar ist nicht zu bezweifeln, dass sich ein stetig wachsender Anteil jüdischer Amerikaner den konservativen Republikanern angenähert hat; gleichwohl stehen die Juden in den USA traditionell den Demokraten näher und werden daher dem Staat Israel in seiner jetzigen politischen Verfassung langsam, aber sicher ihre Solidarität entziehen.

So Peter Beinart, Politologe und prominenter Kritiker der israelischen Regierung in der Zeitung Haaretz über die Bedeutung der Wahl: „It means loving Israel more than ever, and opposing its government more than ever. It means accepting that, for now at least, the peace process is over and the pressure process must begin.“ An diesem Befund können Netanjahus jüngste Äußerungen, wonach eine Zweistaatenlösung unter von ihm definierten Bedingungen doch möglich sei, nichts ändern. Entweder hat er gelogen oder er lügt jetzt.

Entzug der Solidarität mit einer Ausnahme: den möglichen iranischen Nuklearwaffen. Juden haben nach Hitlers frühen Ankündigungen leidvoll erfahren müssen, dass Vernichtungsdrohungen nicht nur leeres Geschwätz darstellen, sondern ernsthafte Vorhaben. Daher steht die jüdische Diaspora auch dort, wo sie sich mit dem Antisemitismus in ihren jeweiligen Ländern auseinandersetzt, in einer paradoxen Situation: So sehr viele, keineswegs alle Juden der Diaspora Netanjahus nationalistische, verbal-rassistische Politik ablehnen, so sehr sind sie doch nach den Erfahrungen des Holocaust mit Blick auf Leben und Überleben mit dem israelischen Staat solidarisch.

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1947 in der Schweiz geboren, seit 1952 in Frankfurt/Main. Studium der Philosophie und Pädagogik in Jerusalem und Frankfurt/Main. Nach akademischen Lehr- und Wanderjahren von 2000 bis März 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt/Main. Dort von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust. Forschung und Publikationen zu moralischer Sozialisation, Bildungsphilosophie sowie jüdischer Kultur- und Religionsphilosophie. Zuletzt Kritik des Zionismus, Berlin 2006, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts, Weinheim 2006 sowie Kurze Geschichte: Judentum, Berlin 2009, sowie Entstehung des Christentums, Berlin 2010.Darüber hinaus ist er Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik.“

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