Kommunistische Utopie: Wahre Sozialisten

Der Vater von Eugen Ruge verbrachte 15 Jahre in Arbeitslager und Verbannung. Nun erscheint "Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion" – sein Lebensbericht.

Taja Ruge, Wolfgang Ruge und Sohn Shenja (Eugen Ruge) 1954. Bild: Archiv Ruge

Erst nachdem sein Vater 2006 gestorben ist, habe er sich völlig frei beim Schreiben gefühlt, sagt Eugen Ruge. Eine Freiheit, die es ihm erst ermöglichte, seinen Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" zu verfassen, für den er im Herbst mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. In subtiler Weise erzählt er darin von der großen kommunistischen Utopie und ihrer kleinen gelebten Wirklichkeit am Beispiel der eigenen Familie. Von Stalinismus, Auf- und Niedergang der DDR, ohne Bitterkeit oder Abrechnungsgestus.

Wie schwer die biografische Bürde für Eugen Ruge tatsächlich gewesen sein muss, die eigene Familiengeschichte zu dramatisieren, wird nun mit der Lektüre der Memoiren des Vaters Wolfgang Ruge deutlich. Dessen Aufzeichnungen "Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion" erscheinen kommende Woche, von Eugen Ruge editiert. Es sind Memoiren, die es in sich haben.

Vater Wolfgang Ruge war in der DDR ein angesehener marxistischer Historiker. Doch was in der DDR-Gesellschaft nur wenige wussten, oder wissen wollten: Bevor er das werden durfte, hatte er 15 Jahre Strafarbeitslager und Verbannung in Stalins Sowjetunion zu überstehen. Es waren brutale und despotische Jahre der völligen Entrechtung, die der Zeitzeuge Wolfgang Ruge in "Gelobtes Land" beschreibt.

Es sind Aufzeichnungen, die Wolfgang Ruge in anekdotischer Form bereits zu Zeiten der DDR begann und die der im hohen Alter von Demenz geplagte Historiker zu Lebzeiten nicht mehr selber abschließen konnte. Eugen Ruge hat nun die verschiedenen Fragmente gesichtet und für eine sehr gut lesbare Buchausgabe geordnet.

Viele Menschen, von denen Wolfgang Ruge berichtet, überlebten die Internierung in den Arbeitslagern nicht. Wolfgang Ruge traf im Gulag deutsche und russische Kommunisten, österreichische Schutzbündler, hohe Sowjetkader, Intellektuelle, Adlige, enteignete Kulaken und viele arme Bauern von den nationalen Minderheiten der UdSSR.

Berliner Kommunisten

Die Familie Ruge war 1933 nach Hitlers Machtübernahme aus Berlin stammend ins "gelobte Land" emigriert. Die Eltern lebten getrennt, Mutter Charlotte hatte über ihren Lebensgefährten Hans Baumgarten Zugang zum Apparat der Komintern in Moskau. Doch der gerade mal 16-jährige Wolfgang und sein zwei Jahre älterer Bruder waren seit ihrer abenteuerlichen Emigration weitgehend auf sich selbst gestellt. Anschaulich beschreibt Wolfgang Ruge, wie sich die beiden Brüder über verschiedene Stationen, Ostsee und Skandinavien bis nach Moskau durchschlugen.

Die Ruges waren strenggläubige Berliner Kommunisten. Wolfgang war bei den Kommunistischen Pionieren, einer Jugendorganisation der KPD. Ab 1925 lebte die Familie in der Britzer Hufeisensiedlung. Wolfgang ging auf die, wie er schreibt, damals von Sozialdemokraten dominierte Rütli-Schule in Neukölln und war stolzer Posterboy der Jugendorganisation seiner Partei.

Die Ruges hielten den Marxismus für ein Naturgesetz und waren vom weltweiten Siegeszug des Kommunismus überzeugt. Die von der Theorie der Gleichheit beseelten Jugendlichen hatte keinerlei Vorstellung davon, was sie in Moskau tatsächlich erwarten sollte.

Doch im August 1933 gab es keine Zweifel. Alles schien besser, als sich weiter im Machtbereich der Nazis aufhalten zu müssen. Wolfgang hätte sich nicht träumen lassen, dass Hitler und Stalin 1939 einen Pakt eingingen oder sein Vater Erwin nach Nazideutschland abgeschoben würde.

"Das Wesen der vor sich gehenden Veränderungen habe ich zunächst nicht einmal ansatzweise erfasst", stellt Wolfgang Ruge für seine Anfangszeit in der UdSSR nachbetrachtend fest. Doch als 1935 bereits das gesamte Umfeld des damals 18-Jährigen von der Repression betroffen war, überlegt er zu fliehen. Zu spät: Sein deutscher Pass war mittlerweile abgelaufen. Er wurde Russe und saß fortan in Moskau in der Falle.

Deutschländer

"So zynisch es klingen mag", erinnert Wolfgang Ruge, "bildete sich 1937/38 in Moskau eine Atmosphäre heraus, in der man sich nachgerade schämen musste, nicht verhaftet zu sein." In dem rückständigen Land war Stalin mit seiner Partei an die "Ausrottung der Revolutionsveteranen und ausländischen Kommunisten" gegangen. "Um uns herum spielten sich schreckliche Dinge ab", so Ruge.

Als "Deutschländer" und "räudigen Fritzen" wird es für ihn, der zuvor auch einige Ausschweifungen erleben durfte, immer schwieriger, die nackte Existenz zu sichern. In dieser Zeit beobachtet er Dorfmädchen, die vor Hunger Kleister fressen. Er selbst kann sich von seiner halbwissenschaftlichen und kartografischen Tätigkeit kaum mehr ernähren.

Im Jahr 1940 erschien Arthur Koestlers berühmter Roman "Sonnenfinsternis". Der frühere Kommunist beschrieb am Beispiel der Moskauer Schauprozesse, wie die stalinistische Diktatur in den 1930er Jahren die kommunistische Idee pervertierte. Zu diesem Zeitpunkt stand Wolfgang das Schlimmste noch bevor. 1941 überfiel die Deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Ein "Fritz" wie Ruge galt als unzuverlässig. "Dass ich nicht lange neben dem Krieg herlaufen würde, war mir von Anfang an klar. Sein Strudel würde mich erfassen. Nur wie?"

Es sollte sich schnell klären. Mit Kriegsbeginn wird er zusammengepfercht mit anderen willkürlich Verhafteten in Viehwaggons zu dem Lager 239 im Nordural bei Soswa deportiert. Die Inhaftierten wurden zu Arbeitssklaven gemacht, der Willkür allmächtiger lokaler Kommandanten ausgeliefert. Das niederträchtige System von Zwangsarbeit und Gefängnisindustrie stammte noch aus dem Zarismus und wurde von Lenin und Stalin fortgesetzt. "Arbeitsmobilisierte" wie Ruge starben in Sibirien zu Millionen.

"Wen der Frost übrig ließ, raffte der Typhus dahin", so Ruge, der die mörderische Schinderei in der sibirischen Forstwirtschaft nur knapp überlebte. Mehrfach retteten ihn seine intellektuellen Fähigkeiten vor der Vernichtung. Er konnte Karten zeichnen und Bilanzen fälschen - etwas, woran jeder sowjetische Lagerkommandant Bedarf hatte.

Erst drei Jahre nach Stalins Tod durfte er im Jahr 1956 in die DDR ausreisen. Zuvor waren Lagersystem und Zwangsarbeit allmählich in ein Verbannungsregime übergegangen. Ab 1948 konnte Wolfgang Ruge ein Fernstudium der Geschichte in Swerdlowsk aufnehmen, das er trotz Schikanen erfolgreich absolvierte. In Soswa lernte er seine dritte Frau, die Russin Taissja (Taja) Kutikowa, kennen. 1954 kam Sohn Eugen zur Welt, den die Ruges zunächst Shenja nannten.

Im Nachwort von "Gelobtes Land" schreibt Eugen Ruge, dass sein Vater schon in der DDR seine Anekdoten über Gulag und Verbannung heimlich präsentierte. Doch trotz der furchtbaren Erlebnisse in der Sowjetunion habe sein Vater nach dem Ende des Stalinismus weiter an den Aufbau einer "wahrhaft sozialistischen Gesellschaft" geglaubt. Er ging nicht in den Westen, machte in der DDR an der Akademie der Wissenschaften Karriere. Die Fortsetzung dieser Geschichte nimmt Eugen Ruge "In Zeiten des abnehmenden Lichts" erzählerisch aufs Korn.

Wolfgang Ruge: „Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion“. Rowohlt, Reinbek 2012. 496 Seiten, 24,95 Euro

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