Konferenz zu Kindesmissbrauch: Das Schweigen brechen

Rund 13.500 Anzeigen gab es 2015. In Berlin kommen am Freitag und Samstag Betroffene zu Workshops und Vorträgen zusammen.

Ein Klettergerüst auf einem leeren Kinderspielplatz

Harmlos oder gefährlich? Eine Schule in Darmstadt, an der Missbrauch stattfand Foto: dpa

BERLIN taz | Als Kerstin Claus schwanger ist, kommt es über sie wie ein Tsunami: Sie erinnert sich wieder an den sexuellen Missbrauch, den sie als Jugendliche erlebt hatte. „Ich wusste zwar rational, dass ich missbraucht worden bin. Aber was das bedeutet, hatte mich bis dahin emotional nicht erreicht“, sagt Claus: „Das passierte erst mit der Schwangerschaft.“ Dann aber mit enormer Wucht.

Sie ist 13 oder 14 Jahre alt, häufig allein zu Haus, manchmal sogar wochenlang. Damit fühlt sie sich überfordert und sucht Halt in der Kirche. Der evangelische Pfarrer, damals doppelt so alt wie sie, sorgt dafür, dass sie in ein Internat in Bayern kommt, in seine Nähe. In der angeschlossenen Schule arbeitet er auch als Religionslehrer. Das Mädchen ist ihm dankbar für sein Engagement: So ist es weg von der desolaten Familie, ohne von ihr komplett getrennt zu sein. Und es gibt jemanden, der sich um sie kümmert, der die familiäre Leerstelle füllt. Dafür verlangt der Mann eine sexuelle Gegenleistung.

Claus, heute 47 und Journalistin, ist eines von etwa einer Million Mädchen und Jungen in Deutschland, die sexuelle Gewalt erleben oder erlebt haben. Das sind ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse hierzulande, schätzt die Weltgesundheitsorganisation. Rund 13.500 Anzeigen wegen Kindesmissbrauchs verzeichnete die Polizeiliche Kriminalstatistik 2015.

Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, geht davon aus, dass die Dunkelziffer erheblich höher ist. „Es werden nur wenige Taten angezeigt, viele werden statistisch erst gar nicht erfasst“, so Rörig. Die Stelle war 2010 nach dem Bekanntwerden massenhafter Missbrauchsfälle vor allem in der katholischen Kirche, aber auch in Heimen und anderen Organisationen eingerichtet worden.

Opfer aus aller Welt

Um Opfern wie Claus zusätzlich eine Stimme zu geben, berief Rörig im März 2015 den Betroffenenrat ein, ein politisches Gremium, das Vorschläge für Gesetzestexte im Zusammenhang mit sexueller Gewalt und Präventionsansätze erarbeitet und Organisationen berät. Claus ist eins der 15 Mitglieder im Betroffenenrat.

Dessen erste große öffentliche Aktion ist ein internationaler Kongress von Opfern aus aller Welt: Am Freitag und Samstag treffen sich in Berlin rund 200 Missbrauchsopfer aus Deutschland, den USA, Polen, Großbritannien, Spanien, Nicaragua zu Vorträgen, Workshops, Gesprächsrunden.

Kerstin Claus, Betroffene

Transparenz sieht anders aus

Kerstin Claus wird man unter anderem bei einem Workshop antreffen, der sich mit Entschädigungen von Opfern befasst. Seit Mai 2013 gibt es einen Hilfsfonds für Missbrauchsopfer in der Familie. Er bezahlt Krankengymnastik, Kuren, Psycho- und andere Therapien, falls die Krankenkasse nicht einspringt. Jetzt geht ihm das Geld aus. „Es kann nicht sein, dass Opfer nicht entschädigt werden, weil kein Geld mehr da ist“, sagt sie.

Sie selbst hat von der Kirche ein Schmerzensgeld bekommen, nachdem sie ihren Peiniger im Jahr 2003 angezeigt hat. Das dienstrechtliche Verfahren gegen den Pfarrer zog sich über Jahre hin, sie durfte keine Akten einsehen und wurde in ihrem eigenen Opferfall lediglich als Zeugin gehört. „Niemand hat mich während des Verfahrens jemals gefragt, wie es mir als Jugendliche ging und wie es mir heute geht“, sagt sie.

Keine strafrechtlichen Konsequenzen

Unabhängig davon kritisiert sie die mangelnde Transparenz der Kirchen bei der Aufarbeitung ihrer Missbrauchsfälle und den laschen Umgang mit den Tätern. Die Bischofskonferenz beispielsweise stoppte 2013 eine Studie, die sie selbst in Auftrag gegeben hatte. Bischöfe und die Forscher des beauftragten Kriminologischen Instituts Niedersachsen überzogen sich gegenseitig mit Vorwürfen: Aktenvernichtung, Zensur, mangelndes Vertrauen.

Mit dem Ausgang ihres eigenen Verfahrens ist Claus mehr als unzufrieden. Der Kirchenmann wurde nicht bestraft, weil es im Verfahren formale Fehler gab. Er wurde nur versetzt mit dem „Hinweis“, künftig zu Kindern und Jugendlichen „seelsorgerische Distanz“ zu wahren. Heute sind die Taten verjährt.

Über die Höhe des Schmerzensgeldes, das Claus von der Kirche bekommen hat, darf sie nicht sprechen. Sie darf nicht einmal sagen, ob die Kirche eine ihrer Therapien bezahlt hat. Claus sagt: „Transparenz sieht anders aus.“ Hätte sie sich dem Druck des Schweigens nicht gebeugt, hätte sie keinen einzigen Cent bekommen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.