Konflikt um Abtreibungsverbot: Massenproteste in Polen

In Warschau und anderen Städten demonstrierten Polinnen am Freitag gegen ein Urteil des Verfassungsgerichts. Doch es geht um mehr.

Straßeneutung voller Menschen

Am Freitagabend demonstrierten Zehntausende in Warschau Foto: dpa

WARSCHAU taz | „Wie viele sind wir?“, ruft die 19-jährige Abiturientin Janina vor dem grell angestrahlten Regierungssitz Polens. Das langgestreckte und in Gelb gestrichene Gebäude wirkt wie eine Kaserne. Hunderte Polizisten stehen davor und beschützen den Sitz des polnischen Premiers Mateusz Morawiecki. Janinas Freund Emil zieht sein Handy aus dem grauen Kurzmantel und klickt die Social Media-News durch: „Hunderttausend. Minimum. Eher mehr“, schreit er gegen den ohrenbetäubenden Lärm an. „Oh, wow) Dann sind im ganzen Land vielleicht sogar eine Million Menschen auf den Beinen! Wahnsinn!“

Janina stellt sich auf die Zehenspitzen, küsst ihn kurz auf den Mund und passt dabei auf, die knallroten Symbole für den Frauenstreik auf seinen Wangen nicht zu verschmieren. Seit gut einer Woche demonstrieren junge Leute in ganz Polen gegen das Urteil des Verfassungsgerichts, das von der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) kontrolliert wird.

Laut Verfassungsgericht verstößt die medizinische Indikation eines „schwerst geschädigten oder nicht überlebensfähigen Fötus“ als Grund für einen Schwangerschaftsabbruch gegen die polnische Verfassung. „Halo policja. Tu obywatele!“ – „Hallo Polizei. Hier sind die Staatsbürger!“ skandiert eine Gruppe junger Leute vor dem Regierungssitz und hüpft dazu vor den Polizisten.

Am Montag will der nationalpopulistische Morawiecki das Urteil im Gesetzesblatt veröffentlichen. Dann wäre in Polen eine Abtreibung nur noch im Falle einer Vergewaltigung möglich – 2019 gab es aus diesem Grund drei legale Abbrüche – und bei Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren – das waren 2019 gerade mal 33 legale Abbrüche.

Druck von Geistlichen und „Lebensschützern“

Im ersten Fall entscheidet die Staatsanwaltschaft, die aber in der Vergangenheit die gesetzlich vorgeschriebene Frist für legale Abbrüche so oft überschritten hat, dass vergewaltigte Polinnen heute in der Regel direkt ins benachbarte Ausland fahren, um dort Hilfe zu suchen. Bei der „Gefahr für Leib und Leben der Mutter“ hingegen entscheiden Ärzte über den Abbruch. Polnische Gynäkologen werden aber von katholischen Geistlichen oder „Lebensschützern“ so unter Druck gesetzt, dass sie es oft vorziehen, ein „gutes katholisches Gewissen“ vorzuschieben, grundsätzlich jede Abtreibung abzulehnen und ihren hippokratischen Eid zu brechen, statt sich mit radikalen Abtreibungsgegnern anzulegen.

Polizisten mit Schilden stehen vor einem angeleuchteten Gebäude

Polizisten bewachen den Sitz der Regierung Foto: dpa

„Wir sind wütend! Wie kommen diese Parteisäcke dazu, sich in unser Leben einmischen?“, schreit Janina gegen Vuvuzelas und die laut skandierte Parole „Wypierdalac – Verpisst Euch“ an. Sie zeiht sich die rote Strickmütze über die Ohren: „Es ist meine Entscheidung, ob ich ein Kind bekommen möchte oder nicht, das noch in meinem Bauch stirbt oder aber kurz nach der Geburt.“ Sie dreht sich um, so dass das Emblem der Frauenbewegung „Streik der Frauen“ zu sehen ist: ein Frauenprofil, durch das ein roter Blitz rast, der dem „Achtung! Hochspannung“-Symbol ähnelt.

Emil, der schon im zweiten Semester Medizin in Warschau studiert, legt den Arm um Janina und nickt: „Ja, es ist die Entscheidung der Frauen. Diese ganzen Politiker, Richter und Bischöfe, die sich zu Pseudo-Gynäkologen aufschwingen, sind einfach nur widerlich.“ Er hält kurz inne und brüllt dann so laut er kann: „Fuck you!“ Die beiden winken Freunden zu, die sie in der Menge entdeckt haben.

„Vor der PiS-Parteizentrale ist die Hölle los“, ruft Ola. Sie hat den roten Frauen-Streik-Blitz auf ihre weiße Gesichtsmaske genäht. „Statt die Corona-Pandemie zu bekämpfen, erklären die PiSler uns Frauen den Krieg“, empört sich die Schülerin, die wie viele andere Demonstrant:innen auch ein selbstgemachtes Plakat an einer langen Stange mitgebracht hat. „Meine Gebärmutter, meine Entscheidung“, steht drauf. Ihr Bruder Filip, der in Corona-Zeiten als Paketkurier jobbt, fragt rhetorisch in die Runde „Treten wir aus?“ Und wie auf Zuruf Janina, Emil, Ola und dann immer mehr zu hüpfen und skandieren dazu: „Apostazja! – Kirchenaustritt!“ und „Wir treten aus!“

Kein Rechtsstaat mehr

Emil skandiert zwar mit, schüttelt dann aber den Kopf: „Wir denken ans Auswandern. Polen ist kein Rechtsstaat mehr, und dass die Partei die Frauen jetzt zu Gebärmaschinen degradieren will – das geht einfach nicht!“. Tatsächlich geht es bei den landesweiten Protesten nur noch formal um die 1.110 Schwangerschaftsabbrüche, die 2019 in Polen aufgrund der Diagnose eines schwerst missgebildeten oder kaum überlebensfähigen Fötus durchgeführt wurden.

Über 70 Prozent aller Polen und Polinnen lehnen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts ab. „Wir kämpfen zwar noch um unsere Freiheit“, so Janina, „aber wenn sich nicht bald etwas ändert, verlassen wir Polen.“ Ola und Filip nicken: „Ja, es hat keinen Sinn, ins Gefängnis zu gehen“, sagt Filip. „Schade. Aber wahrscheinlich müssen auch wir irgendwann sagen ‚Adieu, Polen‘!“

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