Konzert von Neneh Cherry in Berlin: Alterslässige Freestylerin

Die künstlerische Wiederauferstehung Neneh Cherrys ist eine der erstaunlichsten Pop-Storys jüngerer Zeit. Nun konnte man sie live erleben.

Frau mit geflochtenen Zöpfen singt in ein Mikrofon

„It’s my politics living in the slow jam“, singt Neneh Cherry​ Foto: Martin Müller/imago

Falls irgendwer an diesem Mittwochabend noch den Hauch eines Zweifels gehegt haben sollte, dass diese Frau weiß, wovon sie singt, so wird der spätestens dann zerstreut, als die ersten Takte des Songs „Deep Vein Thrombosis“ erklingen.

Neneh Cherry, in ein weißes, gewand­artiges Kleid gehüllt, auf dem zwei lange geflochtenen Zöpfe baumeln, steht kurz still vor dem Mikrofon; die Augen geschlossen, ganz bei sich.

Sie singt davon, wie beschränkt und banal das Leben sein kann und wie es dann mit einem Fingerschnippen auch schon wieder vorbei ist; „Life’s a bitch, and then you die“, zitiert sie berühmte Verse des New Yorker Rappers Nas; sie spielt mit dieser Zeile, variiert sie zu „Life is funny, and then you die“, tippt sich mit dem Finger an die Schläfe.

Ein gemeiner Hund ist es, das Leben, verdammt noch mal – „how fragile is this life“, freestylt Cherry jetzt – Thrombose und Tod hält es bereit – „so let’s live first!“, shoutet sie dann. Untermalt wird ihr Gesang von gleitenden Vibrafonklängen, sanft pochenden Beats.

Full House!

Während des Konzerts, das Neneh Cherry im Astra gibt, bekommt dieses Stück eine besondere Bedeutung, denn sie widmet es dem genau vor einem Jahr verstorbenen britischen Designer, Styler, Punk-Prototyp und Fädenzieher Judy Blame, mit dem sie eng zusammenarbeitete. Im ausverkauften Saal („Full House, yeah“, begrüßt sie das Publikum) stellt sie ihr vergangenen Herbst erschienenes Album „Broken Politics“ vor.

Die rund 1.500 Besucher_innen sind sichtlich berührt und begeistert, die 54-jährige schwedisch-amerikanisch-britische Musikerin nach ihrem Comeback vor einigen Jahren noch mal erleben zu dürfen.

Einmal sieht es fast so aus, als setze Neneh Cherry gleich zum Breakdance an

Die Wiederauferstehung der Neneh Cherry ist in der Tat eine der erstaunlichsten Geschichten des Pop in der jüngeren Zeit. Neneh Mariann Karlsson, wie sie eigentlich heißt, in Stockholm aufgewachsen, Stieftochter des Jazzers Don Cherry, begann als junger Punk in den frühen Achtzigern in London, spielte gemeinsam mit den Slits.

Ende der Achtziger und zu Beginn der Neunziger hatte sie Pop-R&B-Hits („Manchild“, „7 Seconds“) – und verschwand dann fast zwanzig Jahre von der Bildfläche. 2014 kehrte sie mit einem ersten triumphalen, TripHop-Album („The Blank Project“) zurück, vier Jahre später folgte ein fast noch größeres Spätwerk, das sich mit dem diffus-katastrophalen Zustand der Welt befasst.

Wie wir leben werden

Das Set besteht zum Großteil aus Songs jenes Albums, so ist etwa das Stück „Synchronised Devotion“ ein weiterer Höhepunkt, auch da geht es um Zerbrechliches und Ungewisses – und darum, wie wir leben wollen und wie wir leben werden. „Broke some glass, broken politics/ Try to bring it on“, singt Cherry darin, „it’s my politics living in the slow jam.“

Am Ende sind Cherrys Stücke immer em­powernd, das Subjekt hat das Heft des Handelns in der Hand, es ist kein Opfer der Verhältnisse, sondern es tanzt, es rappt und genießt das Leben, es wirbelt herum auf der Bühne, vor Ort in Persona der Sängerin. Mit stylishen weißen Turnschuhen groovt sie auf und ab, hin und her, einmal sieht es fast so aus, als setze sie zum Breakdance an.

Das nun folgende Stück, „Black Monday“, ruft ganz direkt (und daueraktuell) zu Selbstbestimmung und -ermächtigung auf, der Song richtet sich gegen ­Abtreibungsgegner_innen. Sie kündigt ihn an mit den Worten: „We have the right to be what we want to be. We have the right to make our choice about our bodies. We will not give up.“

Als Cherry gegen Ende Evergreens wie „Manchild“ und „Buffalo Stance“ (beide 1989) spielt, sieht man im Publikum – geschätzt etwas mehr Frauen als Männer, Durchschnittsalter etwa 50 – glückselige Gesichter, die für diesen einen Moment wohl gedanklich dreißig Jahre jünger werden und vielleicht, wie der Autor dieser Zeilen, ein MTV-Video mit einem billig animierten Strand, einer jungen Mama Neneh Cherry und schaukelnden Kindern vor Augen haben. Auch „7 Seconds“ (1994), ihren größten Hit, spielt sie – dabei ist das eigentlich eines ihrer schwächeren, auf Radioformat getrimmten Stücke.

Stark sind eher die neueren Songs, stark sind die Freestyle-Raps, die Cherry zwischendurch einstreut, stark sind die Tanzeinlagen. Stark ist die Lockerheit, die Nonchalance, die Alterslässigkeit. Stark ist, dass drei Frauen – neben ihr selbst eine Perkussionistin und eine Harfenistin – vorne auf der Bühne agieren, während vier Männer im Hintergrund an Computern und Bässen werkeln. Stark ist diese besondere Stimmfarbe Cherrys.

Ein ganz großer Konzertabend wäre es gewesen, wenn die Abmischung besser gewesen wäre und ihre Stimme noch klarer zur Geltung gebracht hätte. So stand diese zwar im Vordergrund, blieb aber trotzdem manchmal zu leise, und Synthesizer und Beats überlagerten gelegentlich alles andere. Toll klang die Harfe, aber auch sie konnte manchmal nicht durchdringen.

Neneh Cherry aber war, ist und bleibt eine Erscheinung, und zum Schluss, nach eineinhalb Stunden, möchte man sich gern so tief und heftig vor ihr verbeugen, dass man immer wieder fest mit dem Kopf auf den Betonboden des Astra knallt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.