Korruption in Indien: „Ungeheure Enttäuschung“

Soziologe Yogendra Yadav über die politische Dynamik des Kampfes gegen die Korruption. Eine Antikorruptionspartei soll die urbanen und ländlichen Bewegungen einen.

Antikorruptionsaktivist bei einem Protest gegen Preiserhöhungen für Kochgas im September im westindischen Gujarat. Bild: reuters

taz: Herr Yadav, in Indien hagelt es Korruptionsvorwürfe gegen die etablierten politischen Kräfte und Sie gründen unter dem Motto „Indien gegen die Korruption“ eine neue Partei. Steckt die indische Demokratie in einer Repräsentationskrise?

Yogendra Yadav: Ich würde es eine Legitimationskrise des politischen Establishments nennen. Wobei zum Establishment nicht nur Staat und Regierungspartei zählen, sondern alle politischen Parteien, die in den letzten zehn Jahren auf nationaler oder regionaler Ebene Regierungsgeschäfte geführt haben. Das sind bei uns über 25 Parteien. Zusammen bilden sie den politischen Mainstream, der in den Augen der meisten Inder seine Glaubwürdigkeit verloren hat.

Die meisten Indier sind arm und haben von den fetten Jahren des Wachstums nichts abbekommen. Liegt hier der tiefere Grund der Unzufriedenheit?

Ich wünschte es wäre so und die Leute wären auf der Suche nach mehr Gerechtigkeit. Aber ich fürchte die Unzufriedenheit hat banalere Gründe: Meist geht es um Politiker, die allzu offensichtlich durch Korruption ihr Ansehen verspielt und deshalb in den Augen ihrer Wähler das Recht verwirkt haben, in ihrem Namen zu sprechen. Es geht also nicht um eine fundamentale Legitimationskrise der Demokratie à la Habermas, sondern um sehr elementare Fragen der Regelwahrung in unserer Politik. Viele Inder fühlen sich schutzlos einer Politik ausgeliefert, die sich nicht an die eigenen Gesetze hält.

In Indiens Öffentlichkeit steht die Korruption im Zentrum aller Kritik. Wie berührt sie das einfache Volk?

Egal auf was die Leute schimpfen, sie machen dafür die Korruption verantwortlich. Insofern ist diese Kritik ein billiger Allgemeinplatz geworden. Doch dahinter steckt die ungeheure Enttäuschung der Menschen über das, was sie von ihrem Staat erwarten und dem, was sie bekommen. Sie verlangen eine Straße für ihr Dorf oder mehr als drei Stunden Strom am Tag. Doch es geschieht nichts. Und bei jeden Gang aufs Amt wird man schikaniert.

ist Sprecher der Bürgerbewegung „Indien gegen die Korruption“. Der Soziologe ist u. a. am Forschungszentrum für Entwicklungsgesellschaften in Delhi aktiv.

Bei einer Talkshow befand kürzlich die Mehrheit der Zuschauer, Indien sei reif für eine Revolution. Ist der Frust wirklich so groß?

Die Geschichte, dass die Armen und Diskriminierten wütend sind und sich gegen das System auflehnen, höre ich in Indien schon seit 30 Jahren. Die Idee ist attraktiv und stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts aus Europa. Es waren schon damals Fantasien, die mit unserer Realität heute nichts zu tun haben. Das Establishment wirft heute schnell seinen Gegnern Untreue zum demokratischen System vor, um den eigenen Kragen zu retten. Dabei beweist die heutige Kritik an der Politik, dass Indiens demokratisches Experiment funktioniert. Denn auch die Ärmsten gehen zur Wahl und erwarten etwas von ihren Politikern. Selbst die sozial am weitesten ausgegrenzten Schichten sind sich sehr bewusst, dass sie eine Regierung abwählen können. Damit ist Indien eine positive Ausnahme unter den postkolonialen Gesellschaften. Die Demokratie ist bei uns überall akzeptiert.

Deshalb gründen Sie im November eine Partei gegen Korruption?

Ich beteilige mich seit 30 Jahren als Aktivist und Soziologe an Indiens Volksbewegungen. Sie haben wenig mit der Zivilgesellschaft zu tun, so wie man sie im Westen versteht, denn sie sind sehr kämpferisch. Oft sind es Dorfbewegungen, die sich mit allen Mitteln gegen große Landnahmen, einen Staudamm oder ein Atomkraftwerk in ihrer Gegend wehren. Ich habe dabei immer nach Wegen gesucht, diesen Bewegungen eine politische Stimme zu geben. Doch meist erfolglos. Doch heute haben diese Kräfte mit dem Antikorruptionskampf erstmals ein gemeinsames Thema.

Diese Anti-Korruptionsbewegung ist vor allem ein Phänomen der neuen Mittelschichten

Völlig richtig. Meine spezifische Rolle aber ist es, Anknüpfungspunkte zwischen den neuen urbanen und den alten ländlichen Bewegungen zu schaffen. Sie können sich ergänzen.

Ihr größter Erfolg als angehende Partei war bisher, die dubiosen Immobiliendeals des Schwiegersohnes von Sonia Gandhi, der Chefin der regierenden Kongresspartei, aufzudecken.

Die ungeschriebene Regel war bisher, dass sich die führenden Familien der großen Parteien gegenseitig nicht bloßstellen. Wir haben dieses Tabu gebrochen und gezeigt, dass es in Indien keine heiligen Kühe mehr gibt. Dazu gehörten bisher auch einige Großunternehmen wie der Reliance-Konzern der Ambanis.

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