Kreative Jugend im Netz: Mein Homer, dein Homer

Im Netz hat sich eine Schreibplattform etabliert, auf der Jugendliche Romane, Comics und TV-Serien recyceln. Sie heißt fanfiction.com. Das Internet als Forum der kulturellen Alphabetisierung?

Harrypotterfanfiction.com, die aktivste Harry-Potter-Gemeinschaft, verzeichnet um die 50.000 Geschichten, verfasst von 25.000 selbst ernannten Autoren.

Viele Erziehungsberechtigte sind sich vielleicht noch nicht ganz sicher, ob sie die Ergebnisse der in diesen Tagen in Deutschland veröffentlichten JIM-Studie besorgt oder beglückt aufnehmen sollen. Die Studie untersucht seit zehn Jahren im Auftrag der Länder Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz das Mediennutzungsverhalten der 12- bis 19-Jährigen. Und 2008 ist das erste Jahr, in dem der Anteil der Computer den der Fernsehgeräte in den Kinderzimmern deutlich übersteigt. Einerseits übertrifft, was sein Eskapismuspotenzial anbelangt, der Computer das TV-Gerät doch bei Weitem. Aber noch sind die Klagen nicht verhallt, dass Internet dumm und leseuntauglich mache. Andererseits lässt der Erfolg einer Seite aus den USA, die, wie die deutsche JIM-Studie, ebenfalls gerade zehnten Geburtstag feierte, auch auf das Gegenteil schließen: Auf den Seiten des fanfiction.net beschäftigt man sich intensiv mit Texten, ja sogar Literatur. Oder versucht es zumindest, mit tapferer Ausdauer.

Seit 1998 existiert die interaktive Lese- und Schreibplattform, und genau so sieht sie auch aus: eine primitiv anmutende Buchstabenwüste, keine bunten Grafiken, keine Bilder, von Videos ganz zu schweigen. Dann und wann blinkt ein einsames Werbebanner. Andere populäre Seiten, wie die aufwendig und schrill gestalteten Nutzerprofile bei Myspace, sind dagegen ästhetische Frontalattacken. Trotzdem gehört fanfiction.net, gemessen an der Verweildauer der Besucher, mittlerweile zu den beliebtesten Seiten des Netzes.

Über siebeneinhalb Stunden verbringt der durchschnittliche Nutzer im Monat dort, wo nichts als das Wort im Mittelpunkt steht. Seiten wie Youtube, Facebook oder Myspace werden zwar häufiger angeklickt, fesseln jedoch weniger Aufmerksamkeit: Im sozialen Netzwerk von Facebook hält man es durchschnittlich knappe drei Stunden pro Monat aus, weniger als die Hälfte. Nur auf drei Internetseiten wird noch mehr Zeit als bei fanfiction.net verbracht: auf der Online-Spielplattform pogo.com und zwei Datingportalen. Kein Märchen für Bildungspessimisten also, dass, nach Spielen und Flirten, Geschichtenlesen die zeitraubendste Beschäftigung im Netz ist.

Diese Geschichten, die so unheimlich viel Anklang finden, haben eines gemeinsam: Sie stehen in keinem Buch. Größtenteils sind es Teenager, die sie verfassen und unter Pseudonym online veröffentlichen. Alle basieren auf Plots und Charakteren, die es bereits gibt - in Comics, TV-Serien, Computerspielen, Kinofilmen und natürlich Büchern. "Unleash your imagination", lautet das schlichte Motto der Seite. Nur ein kurzer Blick auf das Angebot reicht, um zu erkennen, dass die User diesen Rat beherzigen und keine Freunde allzu einfühlsamer Klassikeraneignung sind.

Don Quijote etwa muss im Text der Autorin Emily Lydic einen Rückfall erleiden, als er eines Tages nach den Pulp-Sci-Fi-Heften seines Neffen greift, sich mit Raumanzug, Raketenschuhen und einer Taschenlampe als Lichtschwert rüstet, um auszuziehen und gegen außerirdische Würmer zu kämpfen. Dr. Hannibal Lecter verrät dafür seine romantische Weihnachtsüberraschung für Clarice Starling, mit der er mittlerweile in einer friedlichen Vorgartensiedlung lebt. Marge Simpson hat es nach monatelangem Body-Workout geschafft, Homers Fernsehapparat zu packen und auf den Müll zu werfen. Oft sind die Stoffe in die Gegenwart verpflanzt. So auch ein parodistisches Epenfragment über Odysseus, einen Mann, der in ein Land namens "The Mall" entsendet wird, um ein Geschenk zurückzubringen.

Etwa elf Million Besucher verzeichnet die vor allem in den USA populäre Seite pro Monat. Mittlerweile gibt es deutsche, französische, spanische Ableger. Hartgesottene Fans finden jenseits von fanfiction.net in speziellen Netzwerken wie der "Bonanzaworld" oder "Jane Austen for Beginners" Gleichgesinnte, mit denen sie an ihren Lieblingsstoffen weiterspinnen. Zweifellos die meisten Nach- und Neudichtungen kann "Harry Potter" verbuchen: Allein harrypotterfanfiction.com, die aktivste Harry-Potter-Gemeinschaft, verzeichnet um die 50.000 Geschichten, verfasst von 25.000 selbst ernannten Autoren.

Spätestens hier drängt sich die Frage auf, inwieweit das, was die enthusiastische Masse produziert, um es mit demselben Atemzug zu konsumieren, mehr ist als ein vorbeirauschender Buchstabenschwall. Zwar hat es schon immer glückliche Dilettanten gegeben, die ihren Lieblingsdichtern nacheiferten. Die heutige Verbreitung, die nicht nur eine neue Ära der Lese-, sondern auch der Schreibwut markiert, ist jedoch dem Internet zu verdanken. So wird fanfiction.net von Spöttern "The Pit" genannt. Sie bezeichnen das Archiv als Grube, in die jeder nach Belieben Eingebungen und Empfindungen ablassen kann. Für eine Veröffentlichung gibt es nur ein Teilnahmekriterium: Wer bei der Registrierung angibt, das 13. Lebensjahr vollendet zu haben, darf publizieren.

Den Texten mangelnde Druckreife vorzuwerfen, wäre allerdings überzogen, denn meistens wird sie gar nicht angestrebt. Sie bedienen zunächst, bei Lesern und Schreibern, die Lust an der zwanglosen Begegnung mit kanonischen Stoffen. Wer darunter leidet, dass sein Lieblingsheld aus der TV-Serie brutal herausgeschrieben wurde, verfasst einfach eine Version, in der sie während des Auslandspraktikums bei einer Hilfsorganisation eben nicht auf eine Landmine tritt. Wer herausfinden will, warum Long John Silver in "Die Schatzinsel" so ein undurchsichtiger Typ ist, dichtet ihm eine erläuternde Vergangenheit an. Der Bedarf an solchen Ergänzungen ist offensichtlich groß. Im virtuellen Zwischenstadium von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wuchert ein Fan-Kanon, auch "Fanon" genannt.

Unter Berufsautoren herrscht Uneinigkeit darüber, wie man mit den kreativen Fans umgehen soll. Der Komparatist und MIT-Professor Henry Jenkins feiert die kollektive Autorschaft: "Fanfiction macht den Schaden wieder gut, den eine zunehmend privatisierte Kultur verursacht. Fans lehnen die Idee einer endgültigen Version, die von einem Medienkonzern produziert, autorisiert und reglementiert wurde, ab", schreibt er in seinem Buch "Convergence Culture". Stattdessen fördere der mediale Austausch ihrer Ideen die "Schaffung und Verbreitung zentraler, kultureller Mythen".

Von der Remythisierung ihrer Werke sind diejenigen, die ihr Urheberrecht verletzt sehen, nicht begeistert. Die Schriftstellerin Annie Proulx bezeichnete gegenüber dem Wall Street Journal die Verfilmung ihrer Kurzgeschichte "Brokeback Mountain" als "Quelle ständigen Ärgernisses", da ihr seitdem Fans regelmäßig "verbesserte Versionen" schickten. Anne Rice will per Bekanntgabe auf ihrer Homepage den Fans das Verfassen von Fanfiction verbieten. Joanne K. Rowling hingegen scheint ihren Tod als Autorin nicht zu fürchten: Sie fühle sich "geschmeichelt" von der Tatsache, dass Harry Potter andere zum Schreiben inspiriere, und begrüße dies, solange damit keine kommerziellen Interessen verfolgt würden.

Bedeutet dies die Geburt einer mündigen Leserschar aus dem Datenverhau des Internets, einer neuen Autorengeneration? Zweifellos verhilft eigenmotiviertes Lesen und Schreiben zu mehr Textkompetenz. Auch Kritik kommt online nicht zu kurz: Jeder kann die Geschichten unmittelbar kommentieren, in speziellen Foren werden Lektorendienste angeboten. Trotzdem ist die Qualitätsskala, auf der die Texte rangieren, mehr als breit, und manche Jane-Austen-Fan-Adaption liest sich wie eine Karambolage von Immenhofmädels mit Barbara Cartland; was sicherlich auch manches Leserherz entzückt.

Die neue Popularität von Fanfiction entkräftet jedoch Prophezeiungen, dass gesteigerter Internetkonsum bei Jugendlichen zwangsläufig zu einer modernen Form des Analphabetismus führt, zu einer schreib- und leseschwachen, bewegtbildfixierten Öffentlichkeit. Eher motivierte die Möglichkeit, anonym vor einem Millionenpublikum zu debütieren, in den letzten zehn Jahren viele dazu, selbst zu schreiben. Die totale Nivellierung von Werkgrenzen und Qualitätsansprüchen, die Selbstermächtigung des Lesers, bereitet jedoch nicht nur manchem Schriftsteller Kopfschmerzen. Werden in Zukunft nicht nur - schlimm genug - alle schreiben, sondern auch noch alle hemmungslos abschreiben? Zumindest in Letzterem sieht der Pulitzerpreisträger Michael Chabon, dessen erste Kurzgeschichte den Titel "Sherlock Holmes meets Captain Nemo" trägt und der zuletzt den Roman "Die Vereinigung jiddischer Polizisten" veröffentlichte, kein Problem. Vielmehr begrüßt er das Schwinden von Einflussangst bei heutigen Autoren: "Jede Literatur seit der Aeneis", so Chabons Überzeugung, "ist Fanfiction."

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