Krieg in der Ukraine: Informationsschlacht um Kupjansk
Russische Truppen wollen die ostukrainische Stadt Kupjansk eingenommen haben. Die ukrainische Armee spricht demgegenüber von einer erfolgreichen Gegenoffensive.
In einem gepanzerten Rettungswagen geht es durch dichten Nebel, teils mit einer Sichtweite von unter 50 Metern. Das Ziel der Fahrt ist ein Vorort von Kupjansk. Die Stadt liegt im ostukrainischen Gebiet Charkiw, direkt an der Frontlinie. Der wichtige Eisenbahnknotenpunkt mit heute gerade noch 800 Einwohner*innen ist schwer umkämpft. Seit Wochen läuft eine juriukrainische Gegenoffensive.
„Die Lage ändert sich wirklich alle drei Minuten“, sagt ein Sanitäter der ukrainischen Sondereinheit der Polizei aus dem Gebiet Charkiw mit dem Kampfnamen „Lasar“. Er kümmert sich um die Evakuierung von verletzten Polizisten und Angehörigen der Sicherheitskräfte. Seit ein paar Wochen hat er mehr zu tun.
Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.
„Die Situation hat sich verändert. Während es zu Beginn unserer Gegenoffensive ruhig war, passiert jetzt viel, wo unsere Hilfe benötigt wird. Die Russen schlagen zurück“, bemerkt Lasar. Andere Soldaten unterbrechen das Gespräch. Sie berichten davon, dass zwei russische FPV-Drohnen im Anflug seien. Daraufhin greifen alle Militärs zu den Waffen, um den Drohnenangriff abzuwehren.
Sie schalten die EloKa (Mittel zur elektronischen Kampfführung) ein. Anwesende Journalisten müssen zur Sicherheit wieder in das gepanzerte Rettungsfahrzeug einsteigen. Zum Glück fliegen die Drohnen vorbei. Die Soldaten erzählen, dass am Tag zuvor ein Pick-up von einer russischen Drohne getroffen worden sei.
Video als Beweis
Am Freitag vergangener Woche hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Kupjansk einen kurzen Besuch abgestattet und Angehörige der Streitkräfte ausgezeichnet. Ein Video seines Aufenthaltes ging viral. „Er machte schnell das Video, anschließend verbrachten die Russen den Rest des Tages damit, mit allem, was sie finden konnten, anzugreifen“, sagt ein Militärangehöriger, der anonym bleiben möchte, auf die Frage, ob sich Selenskyj am 12. Dezember in Kupjansk aufgehalten habe.
Dass Selenskyj mitnichten in Kupjansk gewesen und das Video an einem anderen Ort aufgenommen worden sei, wird in Verschwörungstheorien behauptet, die auch in ukrainischen sozialen Medien verbreitet wurden. Nicht nur russische Bots mischen kräftig mit, sondern auch Selenskyjs politische Gegner.
Und überhaupt: Glaubt man der offiziellen Darstellung des Kreml, steht ganz Kupjansk bereits unter russischer Kontrolle. Das russische Oberkommando hatte im November und Dezember wiederholt die Einnahme der Stadt verkündet.
Für die Eroberung der Stadt verlieh der russische Präsident Wladimir Putin dem Befehlshaber der russischen Streitkräfte in diesem Gebiet, General Sergei Kusowlew, sogar die Auszeichnung „Held Russlands“. Am vergangenen Dienstag bekräftigte Putin seine Behauptung von der Einnahme erneut.
Kein Zugang für Journalisten
Die ukrainische Operation in Kupjansk wird unter einer maximalen Informationssperre durchgeführt. Journalisten haben bis heute keinen Zugang zu der Stadt. Allerdings nicht wegen fehlender ukrainischer Kontrolle über das Gebiet, sondern wegen des ungeschützten Luftraums. Die Russen setzen verschiedene Drohnenarten ein, gegen die auch mit der EloKa wenig auszurichten ist. Ukrainische Soldaten kommen jedoch sowohl mit Fahrzeugen als auch zu Fuß in die Stadt.
Die Vorbereitungen für die ukrainische Gegenoffensive begannen im August und dauerten bis Oktober 2025. In dieser Zeit wurden die Dörfer Kindraschiwka, Mirnyje und Radkiwka nordwestlich von Kupjansk befreit. Ukrainische Truppen erreichten den Fluss Oskil, die Russen mussten sich auf die andere Seite zurückziehen. Eine Pipeline, über die russische Truppen in den Norden der Stadt eingedrungen waren, wurde ebenfalls zerstört. 40,2 Quadratkilometer ukrainischen Territoriums wurden zurückerobert.
Lediglich der Generalstab und das Korps der Nationalgarde der Ukraine, das für die Kämpfe in diesem Gebiet zuständig ist, sind auskunftsbefugt. Laut ihren Angaben seien Mitte Dezember 2025 etwa 40 bis 50 russische Funkgeräte in der Stadt geortet worden. Da jeweils ein Funkgerät einer Gruppe von vier bis fünf Soldaten zugeordnet ist, bedeutet dies, dass derzeit bis zu 200 russische Soldaten eingekesselt sind. Die ukrainische Seite spricht von einer kompletten Einkesselung.
In Kupjansk und Umgebung wurden 1.027 russische Soldaten getötet, ihr Tod ist durch Videos dokumentiert. Zusätzlich wurden 291 Besatzer verwundet und 13 gefangen genommen. Die russischen Nachschubwege in die Stadt sollen mittlerweile abgeschnitten sein. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Oleksandr Syrskyj, erklärte, dass die Ukraine mit Stand vom 17. Dezember 90 Prozent der Stadt Kupjansk kontrolliere.
Lenkbomben, Drohnen und Raketen
Auch der ukrainische Informationsdienst Deep State, der über militärische Quellen verfügt, hat die erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Verteidigungskräfte in Kupjansk bestätigt. Analysten zufolge kontrollieren russische Truppen seit dem 17. Dezember einen Teil des Stadtteils Jubileiny mit Hochhäusern im Süden der Stadt, mehrere kleine Viertel mit Hochhäusern im Stadtzentrum in der Nähe des Stadions sowie ein Einfamilienhausgebiet südlich des Marktes im Zentrum von Kupjansk.
Dass die ukrainischen Kräfte vorrücken, berichten auch ukrainische Soldaten aus verschiedenen Brigaden in diesem Gebiet, Angehörige der Sondereinheit der Charkiwer Polizei und Soldaten des Sicherheitsdienstes der Ukraine, die an der Gegenoffensive beteiligt waren, in privaten Gesprächen.
Und dennoch: Russische Streitkräfte greifen Kupjansk weiter mit Lenkbomben, Raketen und Drohnen an. Dennoch ist der Sanitäter „Lasar“ zuversichtlich. „Wir befreien die Stadt, die Lage ist viel besser, als sie bislang war“, sagt er. Die in Kupjansk gerade häufigsten Verletzungen würden durch Drohnenangriffe und Artilleriebeschuss verursacht. Dabei handele es sich hauptsächlich um Schnittwunden, geschlossene Schädel-Hirn-Traumata und Prellungen. Chemische Verletzungen hätten die Polizeimediziner in Kupjansk bisher noch nicht festgestellt.
„Die Stadt ist komplett zerstört. Es gibt nur sehr wenige Zivilisten“, sagt der Chef der Charkiwer Polizei-Sondereinheit mit dem Kampfnamen „Bulava“ (Keule). 2022 vor dem Beginn der vollumfänglichen Invasion in die Ukraine lebten 26.600 Menschen in Kupjansk. „Bulava“ hat erst vor Kurzem einige seiner Kameraden aus Kupjansk evakuiert. „Wir evakuieren, wenn es nötig ist, wenn die Menschen uns darum bitten. Es ist fast niemand mehr in der Stadt, nur noch wenige alte Leute“, so „Bulava“.
Nach Kupjansk fahren diese Polizisten regelmäßig. Mit hoher Geschwindigkeit und „Hoffnung“, wie einer sagt. Denn es bleibt weiterhin gefährlich. Wahrscheinlich ist, dass sich aufgrund der großen internationalen Resonanz die Lage noch einmal verschärfen wird. Die russische Armee wird sich noch mehr anstrengen. Und so manch ein russischer Soldat wird den bereits an General Kusowlew verliehenen Orden für die Eroberung von Kupjansk mit seinem Leben bezahlen.
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey und Barbara Oertel
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