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Kriminologe über PolizeireformenVerpasstes Momentum

Nach dem NSU-Versagen versprach die Polizei Reformen und sieht sich heute sensibilisiert im Umgang mit Rassismus. Ein Kriminologe hat da Zweifel.

Kassel, 06.04.2018: am Gedenkstein für Halit Yozgat wird an weitere NSU-Opfer erinnert Foto: Peter Hartenfelser/imago

Berlin taz | Es waren deutliche Worte, die der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags bereits in seinem Abschlussbericht im Jahr 2013 fand. Die Polizei habe bei der Mordserie die Gefahr des Rechtsterrorismus „völlig falsch eingeschätzt“. Sie habe nicht offen ermittelt, ihre Analysen seien „fehlerhaft“ gewesen, eine Koordination habe gefehlt. Es habe „neben strukturellen auch schwere individuelle Fehler“ gegeben. Der Umgang mit den Opfern sei „nicht angemessen“ gewesen.

Und der Ausschuss gab klare Handlungsempfehlungen. Bei Gewalttaten, die aufgrund der Person des Opfers einen rassistischen Hintergrund haben könnten, müsse dieses Motiv „eingehend geprüft“ und entsprechend dokumentiert werden. Ermittlungen müssten koordinierter erfolgen und zudem besser evaluiert werden. Es brauche „eine neue Arbeitskultur“ der Polizei und eine Fehlerkultur. Ungeklärte Straftaten mit möglichem Rechtsterrorbezug müssten neu und „mit Hochdruck“ überprüft werden. Interkulturelle Kompetenz müsse fester Teil der Polizeiausbildung und des Alltags werden. Für die Kommunikation mit Opfern brauche es außerdem speziell geschulte Beamte.

Tatsächlich erfolgte nach dem NSU-Auffliegen die Überprüfung von rund 3.300 ungeklärten Todesfällen, beauftragt vom BKA. Bei 745 wurden Hinweise auf ein mögliches rechtsextremes Motiv gesehen – die sich laut BKA aber letztlich in keinem Fall erhärten ließen. Auch bei den NSU-Taten kam am Ende nur eine neue Tat hinzu, weil ein NSU-Helfer diese offenbarte: ein bis dahin ungeklärter Sprengstoffanschlag im Juni 1999 in Nürnberg. Auch klaffen die Zahlen rechtsextremer Todesopfer seit dem Jahr 1990 weiterhin auseinander: Behörden erkennen 113 Opfer offiziell an, zivilgesellschaftliche Initiativen und Medien zählen mehr als 200 Opfer.

Sensibilisiert, aber nur schwach umgesetzt

Der Frankfurter Kriminologe Tobias Singelnstein zieht 14 Jahre nach dem Auffliegen des NSU ein zwiespältiges Fazit. „Insgesamt hat die Sensibilität der Polizei für Rassismus zugenommen“, sagt er der taz. So seien nach dem NSU-Versagen durchaus Reformen angestoßen worden. Die Sensibilität aber gebe es vor allem, weil die Gesellschaft mehr über das Thema diskutiere. „Was den Abbau des institutionellen Rassismus angeht, steht die Polizei aber trotzdem noch ganz am Anfang.“

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Denn es gebe in der Polizei auch gegenläufige Entwicklungen, so Singelnstein. „Migration und Kriminalität werden diskursiv immer stärker miteinander verknüpft, etwa durch den Begriff sogenannter Clankriminalität. Das schafft und reproduziert rassistisches Wissen in der Polizei.“ Auch tauchten bis heute rechtsextreme Chatgruppen von Po­li­zis­t*in­nen auf. Die Entwicklung sei ein „Hin und Her“, so der Polizeiforscher.

Jochen Kopelke, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, betont dagegen, dass die Polizei nach dem NSU interne Fortbildungen angepasst, interne Meldesysteme gefördert und mancherorts Antirassismusbeauftragte eingeführt habe. Teils seien auch externe Polizeibeauftragte eingeführt worden. In einer bundesweiten Polizeistudie sei festgestellt worden, dass der Großteil der Bediensteten demokratisch gefestigt sei. Das Disziplinargesetz sei verschärft worden, um rechtsextreme Vorfälle zu ahnden.

Die Polizeibeamten seien heute „im Umgang mit Rassismus sensibilisiert“, findet Kopelke. Für menschenverachtendes Gedankengut gebe es in der Polizei keinen Raum. „Pauschalverurteilungen“ seien fehl am Platz. Die Behörden müssten sich aber stetig aktiv für Weltoffenheit einsetzen, damit das Vertrauen der Bevölkerung und der Communitys „weiterhin hoch bleibt“.

Kriminologe Singelnstein erkennt zwar die Fortschritte an. Aber: Antirassistische Fortbildungen blieben auf wenige Stunden begrenzt, die Polizeibeauftragten hätten wenig Ressourcen, Raum für Supervision in der Polizeiarbeit sei weiter knapp, und Diversität in der Belegschaft bleibe überschaubar. „Die Maßnahmen bleiben zarte Pflänzchen, sie sind noch kein Gamechanger“, bilanziert Singelnstein. „Der Kulturwandel der Polizei steht weiter aus.“

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1 Kommentar

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  • Die Eigenwahrnehmung entbehrt jeder Grundlage. So kann man sich Konsequenzen und Verantwortung natürlich auch entziehen.