Krisengeschüttelte Ukraine: Tote bei Unruhen in Kiew

In der Hauptstadt der Ukraine toben am Dienstag wieder Straßenschlachten. Nach Angaben von Ärzten starben dabei drei Demonstranten. 150 Menschen sind verletzt worden.

Vorbei mit der Ruhe: Anti-Regierungs-Demonstranten im Scharmützel mit staatlichen Scherheitskräften. Bild: reuters

KIEW/BERLIN rtr/afp/dpa | Nach wochenlanger angespannter Ruhe in der Ukraine ist die Lage mit Straßenschlachten in Kiew erneut eskaliert. Nach Angaben von Oppositionsärzten sind drei Demonstranten getötet worden. Die Regierungsgegner seien von Schüssen getroffen worden, sagte am Dienstag in Kiew der Chef des Ärzteteams der Opposition, Oleg Mussiji. Zudem wurden nach vorherigen Angaben der Ärzte mindestens 150 Demonstranten verletzt.

„Mindestens drei Menschen sind gestorben. Alle hatten Schusswunden“, sagte Mussiji vor Journalisten in Kiew. In der ukrainischen Hauptstadt war es am Dienstag zu neuer Gewalt gekommen. Vor allem vor dem Parlament und der Zentrale der Regierungspartei von Präsident Viktor Janukowitsch lieferten sich Regierungsgegner und Sicherheitskräfte gewaltsame Auseinandersetzungen.

Die meisten Verletzungen der Demonstranten gingen nach Ärzteangaben auf den Einsatz von Blendgranaten durch die Bereitschaftspolizei zurück. Die Polizei gab an, in ihren Reihen habe es bei den Auseinandersetzungen 37 Verletzte gegeben.

Im Marienpark nahe dem Parlament im Zentrum der Hauptstadt bewarfen sich vermummte Demonstranten und Regierungsanhänger gegenseitig mit Brandsätzen. Die Protestierer schleuderten Steine auf Sicherheitskräfte und schossen Feuerwerkskörper ab. Die Polizei setzte Tränengas ein und feuerte mit Gummigeschossen.

Zuvor waren Tausende zum Parlament gezogen. Sie fordern, die Macht von Präsident Viktor Janukowitsch per Verfassungsänderung zu beschneiden. Dann durchbrachen maskierte und mit Knüppeln bewaffnete Demonstranten Medien zufolge eine Polizeikette. Protestierer zündeten zwei Lastwagen an. Auch in der Gruschewski-Staße zum Regierungsviertel brannten wieder Reifen. Demonstranten stürmten und verwüsteten ein Büro der regierenden Partei der Regionen.

Regierung und Opposition machten sich gegenseitig für die Eskalation verantwortlich. Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko rief Janukowitsch auf, vorgezogene Präsidenten- und Parlamentswahlen auszurufen. „Das wird ein Ausweg sein“, sagte Klitschko. US-Botschafter Geoffrey Pyatt verurteilte die Gewalt. „Politik sollte im Parlament stattfinden und nicht auf der Straße“, schrieb Pyatt bei Twitter.

Ein massives Polizeiaufgebot sicherte das Parlament ab; die Miliz brachte Wasserwerfer in Stellung. Parlamentschef Wladimir Rybak weigerte sich aber, Verfassungsänderungen auf die Tagesordnung zu setzen. Aus Protest gegen die Entscheidung blockierten Dutzende Oppositionsabgeordnete das Präsidium der Obersten Rada. Später wurde ein Gesetzentwurf der Opposition im Parlament eingebracht. Es war aber unklar, wann der Text besprochen werden sollte.

Opposition setzt weiter auf EU und Deutschland

Am Montag hatte der russische Finanzminister Aton Siluanow angekündigt, dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch mit einer weiteren Geldspritze den Rücken zu stärken. Bis Ende der Woche werde sein Land ukrainische Anleihen im Wert von zwei Milliarden Dollar kaufen, sagte er. Das Geld werde am Mittwoch erwartet, verlautete aus ukrainischen Regierungskreisen. Es ist Teil eines Hilfspakets im Volumen von 15 Milliarden Dollar. Bereits im Dezember war eine erste Tranche über drei Milliarden Dollar geflossen.

Die proeuropäische Opposition in der Ukraine setzt dagegen auf die weitere Unterstützung Deutschlands und der Europäischen Union im Konflikt mit der Staatsführung. „Unsere europäischen Partner sind zur Unterstützung bereit“, sagte der Oppositionsführer Arseni Jazenjuk am Montag an der Seite seines Kollegen Vitali Klitschko nach einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Berlin. In der Ukraine trat ein Amnestiegesetz für festgenommenen Demonstranten in Kraft.

Beim Treffen mit Merkel sei über Finanzhilfen und mögliche Sanktionen gegen Mitglieder der Staatsführung gesprochen worden, bestätigten Kitschko und Jezenjuk. Im Gespräch sei etwa eine finanzielle Unterstützung von 610 Millionen Euro. Klitschko sagte, dies sei aber an Reformen gebunden. Zum Thema Sanktionen gab er an, „alle Optionen“ lägen auf dem Tisch. Jazenjuk warf Staatschef Viktor Janukowitsch vor, „Zeit kaufen“ zu wollen. „Wir werden kämpfen bis zum Sieg“, versicherte er.

Die Bundesregierung teilte nach dem Gespräch mit, „die Bürgerrechte müssten geschützt und ein demokratischer Ausweg aus der Krise gefunden werden“. Merkel habe versichert, „dass Deutschland und die EU alles tun würden, um zu einem positiven Ausgang der Krise beizutragen“. Der Vizechef der Unionsfraktion im Bundestag, Andreas Schockenhoff (CDU), sagte, Finanzhilfen müssten „an klare politische Reformen gebunden sein“. Hinsichtlich Sanktionen plädierte er zunächst für weitere Verhandlungen.

Dmitri Bulatow in Berlin

Am Montag war nach der Räumung des Rathauses in der Hauptstadt Kiew ein Amnestiegesetz für die festgenommenen Demonstranten in Kraft getreten. Auch in der westlichen Stadt Lemberg wurde das Rathaus geräumt, wie die Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine berichtete. Allerdings hielten in Kiew Demonstranten weiter den zentralen Unabhängigkeitsplatz sowie mehrere öffentliche Gebäude besetzt.

Die Staatsanwaltschaft hatte am Sonntagabend mitgeteilt, dass die vor zwei Wochen vom Parlament beschlossene Amnestie für die während der Proteste festgenommenen Demonstranten am Montag in Kraft treten würde. Bedingung war die Räumung der öffentlichen Gebäude. Die Opposition lehnte dies eigentlich ab, gab am Sonntag aber als Zeichen des guten Willens das Kiewer Rathaus frei, das als „Hauptquartier der Revolution“ galt.

Der Oppositionsaktivist Dmitri Bulatow, der nach eigener Aussage entführt und gefoltert worden war, wurde am Montag vom Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Christoph Strässer (SPD), in Berlin empfangen. Polens früherer Präsident Aleksander Kwasniweski, der als Vermittler in der Ukraine agiert, traf Bundespräsident Joachim Gauck. Er forderte in der Bild-Zeitung eine engere Abstimmung von EU und USA zur Ukraine.

Die Ukraine wird seit Ende November von massiven Protesten der proeuropäischen Opposition erschüttert. Auslöser war die Entscheidung von Janukowitsch, die Unterzeichnung eines über Jahre ausgehandelten Assoziierungs- und Freihandelsabkommens mit der EU abzusagen. Die Opposition fordert den Rücktritt Janukowitschs, die Änderung der Verfassung und Neuwahlen.

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