Krisenländer können von Neukölln lernen: Der Sieg spricht spanisch

Spanien versucht gerade, mit der Krise fertig zu werden. Berlin-Neukölln kennt gar keinen anderen Zustand. Was kann das Problemland vom Problemkiez lernen?

Mittlerweile nicht nur inoffiziell anerkannt: Die achtzehnte autonome Gemeinschaft Spaniens, die Region „Nueva Colonia“. Bild: dapd

BERLIN taz | Vom Neuköllner lernen heißt siegen lernen. Auch wenn der Sieg auf den ersten Blick so aussieht, als hätte ihn noch nicht mal Pyrrhus mit der Kneifzange angefasst. Der Sieg trägt komische Brillen, kunstvoll zerrissene Spitzenstrumpfhosen, zauselige Bärte und sieht so jung aus, dass er sichtlich eben erst errungen wurde.

Der Sieg stolpert laut schnatternd durch die Hobrechtstraße in Neukölln, er lümmelt schnatternd auf alten Sesseln in Kneipen namens „Raumfahrer“ oder „Mama“ herum, und vor allem – eine gute und außerhalb der Welt des Fußballs eher überraschende Nachricht für das krisengeplagte Spanien – spricht der Sieg spanisch.

Denn jeder der spanischen Hipster hier kann sich schon allein dafür als Sieger wähnen, dass er der heimischen Krisenhölle in Madrid oder Saragossa entkommen konnte, mit dem letzten Ersparten oder mit dem nackten Leben. Vor die Wahl gestellt: Arbeits- und obdachlos in Spanien oder ein anerkannter Mondscheinkreativer mit WG-Zimmer im flippigen Neukölln, fiel die Entscheidung leicht.

Wer noch ein paar Europeseten in der Tasche hat, kauft sich auch eine Eigentumswohnung, die südlich des Landwehrkanals in etwa so viel kostet wie in Barcelona die „comida barracuda“, eine Tüte salziger Gummibärchen, das Hauptnahrungsmittel der Krisenverlierer.

In Saus und Braus

Die jungen Spanier waren fast schon am Ende, als sie mit letzter Kraft den EasyJet-Flieger nach Schönefeld erklommen. Doch hier, in der mittlerweile nicht nur inoffiziell anerkannten achtzehnten autonomen Gemeinschaft Spaniens, der Region „Nueva Colonia“, leben sie nun vergleichsweise in Saus und Braus.

Selbst ihre Experimentierlust, lange unterdrückt von den nagenden Grundbedürfnissen Hunger, Durst und Geld, ist wieder da: Auf gemieteten Fahrrädern eiern sie in Schlangenlinien auf den Neuköllner Straßen herum, kippen dabei nicht selten einfach um, und man fragt sich natürlich, wie ein Gen-Pool, der einerseits so herausragende Radsportler hervorzubringen vermag, auf der anderen Seite den Anlagen seiner Normalbürger schon die Befähigung zu den geringsten Grundkenntnissen dieser Kunst so durch die Samenbank verweigert.

Aber – aufgemerkt! – vielleicht findet sich in einer Analogie zu diesem Fahrradphänomen auch so etwas wie ein erster Hinweis auf die Hintergründe der Finanzkrise: Womöglich besitzt Spanien an der Spitze ganz besonders taugliche Bankenchefs, während sich die Kleinsparer im Umgang mit ihren Finanzen als völlig unzulänglich erweisen.

Erfahrungsgemäß ist ja auch in anderen krisengeschüttelten Ländern der Mann von der Straße schuld an dem Dilemma – es ist nur recht und billig, dass er es dann auch ausbadet, und zwar in einem Säurebad aus Lohnkürzungen und Entlassungen.

Wieso ist hier alles so billig?

Die jüngeren, gebildeteren und mobileren unter den Verlierern planschen da lieber im idyllischen Neuköllner Columbiabad. Während sie auf der Liegewiese kreativ in den blauen Himmel blicken, kneifen sie sich ab und zu in den Arm: Kann das alles wahr sein? Wieso ist hier alles so schön? Und so billig? Neukölln war doch schließlich selber jahrelang ein gängiges Synonym für die Krise an sich.

Die Arbeitslosigkeit früher doppelt so hoch wie in der Heimat, die Temperaturen doppelt so niedrig, die Eingeborenen raue Schläger, die sich von gesüßtem Branntwein fragwürdiger Provenienz ernährten. Warum läuft es dort denn nun auf einmal um so vieles besser als in Spanien?

So gut, dass man hier die Zuwanderer von der Iberischen Halbinsel nicht nur bestens verkraftet, sondern, im Gegenteil, der Aufschwung durch den Zuzug der Seuchenvögel offenbar sogar noch zunimmt. Und zwar so stark zunimmt, dass in der Gegend schwäbische Studentenbarbesitzer, aus Angst, ihre Wäschekörbe könnten unter der allabendlichen Last der Geldscheine bersten, den dunkelhaarigen Neuneuköllnern gern die Tür verbieten wollen.

Ein ganz einfacher Grund für das Erfolgsmodell: Neukölln war schon immer in der Lage aufzusaugen und zu integrieren, was woanders nicht mehr sein wollte oder konnte: Hugenotten, Hussiten, Huren – wer kommen wollte, kam, sah und blieb. Und jedes Mal, wenn ein neuer Schwung Einwanderer den Möbelkarren auslud, wurde im Bezirk alles noch schöner und noch billiger. Ein Ende dieser Entwicklung ist noch immer nicht abzusehen.

Rezept: Bausubstanz hundert Jahre verrotten lassen

Also: „Viva la integración!“ Und was könnte Spanien darüber hinaus von Neukölln lernen, auch damit die jungen Leute in Zukunft vielleicht nicht mehr von einer Jugendarbeitslosigkeit über fünfzig Prozent und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft außer Landes getrieben werden?

Das Rezept: Zunächst einmal die Bausubstanz und Infrastruktur mindestens hundert Jahre lang gepflegt verrotten lassen. Schulden? Einfach nicht beachten. Arbeitslosigkeit? Wer will schon arbeiten. Vierzig Milliarden Direkthilfe? Broochenwa nich!

Aber hätte man sie dem Bezirk überhaupt angeboten, hätte der Bürgermeister fairerweise geantwortet, „nein danke, das wird hier eh nur versoffen!“ – obwohl das allemal sinnvoller gewesen wäre, als es den Banken für weitere Spekulationsgeschäfte in den Allerwertesten zu schieben.

Irgendwann ist dann zwangläufig der Zeitpunkt erreicht, an dem alles derart unerträglich ist, dass es fast schon wieder schön wird. So wie ein schwerer Schock die Schmerzen nach einem schlimmen Unfall lindert. Das klingt interessant, das lockt die Menschen an. Und auf einmal kommen sie aus allen Ecken und Winkeln heraus, mit ihrem Optimismus, ihren Holzklötzchenspielen und ihren Nähkästchen.

Minus mal minus gibt plus

Mädchen in wallenden Gewändern und mit selbstgestrickten Spermienmützen auf dem Kopf. Jungs mit lustigen Ideen, lustigen Drogen und lustigen Drogenideen. Frauen mit Projekten. Männer mit Arbeit. Kinder, Hunde, Amerikaner, Australier, EU-Ausländer und am Ende viele, viele Spanier. Spanier in Neukölln, die Krise in der Krise – minus mal minus gibt plus.

Und alles wird gut. Was Spanien also auch noch von Neukölln lernen kann: Es sollten einfach viel mehr Spanier hinziehen. Das müsste sich dort eigentlich bewerkstelligen lassen – die sitzen immerhin doch an der Quelle.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.