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Kulturboom in der UkraineKosaken und Luftschutzkeller

In der Ukraine laufen Oper und Theater im Krieg weiter – unter besonderen Bedingungen. Zu Besuch in zwei Spielstätten in Odessa und Mykolajiw.

Gewaltiger Kronleuchter: der Zuschauerraum des Opernhauses von Odessa Foto: Marco Benedetto/Imago

Erster Akt: 31. Oktober, Odessa. Bei Luftalarm werde das Personal die Be­su­che­r:in­nen in den Luftschutzkeller geleiten, verkündet die höfliche Lautsprecherstimme gelassen – erst auf Ukrainisch, dann auf Englisch. Falls der Alarm weniger als anderthalb Stunden andauern sollte, werde die Vorstellung fortgesetzt. Andernfalls würden die Tickets ihre Gültigkeit behalten und man könne sie für eine beliebige andere Vorstellung einlösen.

Von der Decke hängt ein gewaltiger Kronleuchter, die Wände glitzern goldfarben, Sitze, Logen und Vorhang sind aus weinrotem Samt gefertigt. Der im Neorokoko-Stil gehaltene Saal des „Odessaer Nationalen Akademischen Theaters für Oper und Ballett“ ist heute zur Premiere von „Der Saporoger an der Donau“ nahezu komplett gefüllt.

Bei der Kosaken-Oper des Komponisten Semjen Hulak-Artemowskyj, der auch das Libretto verfasste, handelt es sich um die erste Oper in ukrainischer Sprache überhaupt. Die Uraufführung fand 1863 im Mariinski-Theater in Sankt Petersburg statt, dann war die Oper im Russischen Reich zeitweise verboten.

Zerschlagung der Kosaken

Die Handlung basiert auf einem historischen Ereignis: Im Jahr 1775 wurde auf Befehl der russischen Zarin Katharina II. die Saporoger Sitsch – die Kosakengemeinschaft im Südosten der heutigen Ukraine – aufgelöst. Katharina II. war im Übrigen auch die Herrscherin, unter deren Ägide fast zwei Jahrzehnte später die Stadt Odessa gegründet wurde.

Im heutigen populären Geschichtsbild in der Ukraine gelten die Saporoger Kosaken als Symbol des ukrainischen Freiheitskampfs, die Zerschlagung der Kosakengemeinschaft hingegen als imperiale Unterdrückung Moskaus.

Die Oper thematisiert, wie die Kosaken nach der Vertreibung aus ihrer Heimat auf der anderen Seite der Donau, im Osmanischen Reich, ein neues Zuhause finden. Mit Schmerz und Sehnsucht denken die Exilierten an ihre Heimat zurück. Deshalb sucht der Kosakenführer Karas schließlich den Sultan auf, um eine Rückkehrerlaubnis zu erbitten.

Die Sän­ge­r:in­nen und Tän­ze­r:in­nen legen in der klassisch gehaltenen Inszenierung ohne jegliche Modernisierungsbestrebungen eine beeindruckende Performance an den Tag, die Musik ist eingängig und volkstümlich. Nachdem der Sultan den Kosaken die Rückkehr in ihre geliebte Heimat schließlich gestattet – ein Happy End also –, folgen hochemotionale Lobgesänge auf die Ukraine.

Heute kein Luftalarm

Die Bal­let­tän­ze­r:in­nen führen in Tracht gekleidet eine regelrechte „Kosakenparty“ mit teils akrobatischen Sprüngen auf, das Publikum klatscht entzückt im Takt mit. An diesem Abend hat kein einziger Luftalarm die Vorführung gestört.

Im Publikum sind auch Deutsche anzutreffen, ehrenamtliche Hel­fe­r:in­nen von der Organisation „Ermstal hilft“. Sie haben soeben Feuerwehrwagen in die Ukraine gebracht und gönnen sich nun etwas Kultur. Teammitglied und Grünen-Politikerin Beate Müller-Gemmeke, von 2009 bis 2025 Bundestagsabgeordnete, ist begeistert davon, dass es eine solche Opernpremiere mitten im Krieg gibt. „Das muss man schon unterstützen, dass das Leben weitergeht“, sagt sie der taz.

Die Dolmetscherin der Gruppe, Nataliia Petrenko, ergänzt: „Wir können nicht nur auf der Straße sitzen und heulen.“ Die russische Seite wünsche den Ukrai­ne­r:in­nen den Tod, aber man gebe nicht auf.

Zweiter Akt: 2. November, Mykolajiw. 130 Kilometer von Odessa entfernt liegt das industriell geprägte Mykolajiw, das Zentrum des ukrainischen Schiffsbaus. Die Stadt war zu Beginn des Krieges zeitweise von russischen Truppen umzingelt, die Wasserversorgung zerstört. Aber man hielt durch. Der Direktor des „Akademischen Kunsttheaters Mykolayjiw“ Artem Swystun führt die taz durch sein Haus, ein 1881 eröffnetes Theatergebäude im neoklassizistischen Stil. Es gebe in der Ukraine gerade einen regelrechten Theaterboom, schildert er – als Teil des allgemeinen Kulturbooms in Zeiten, da der Kreml die ukrainische Kultur auszulöschen wünsche.

Vor dem Krieg wurde Russisch gesprochen

Vor dem großen Krieg war das Theater noch komplett russischsprachig. Auf dem Spielplan standen russische sowie internationale Dramenklassiker in russischer Sprache. Wie die anderen Teile des ukrainischen Ostens und Südens wurde Mykolajiw zu Sowjetzeiten stark russifiziert. Auch jetzt hört man auf der Straße vorwiegend Russisch, doch für offizielle Anlässe nutzt man inzwischen die Amtssprache: Ukrainisch.

Unter dem alten Direktor habe es bis 2017 im zweiten Stock des Theatergebäudes gar eine Filiale von „Russkiy Mir“, der „Russischen Welt“ gegeben, berichtet Swystun. Dabei handelt es sich um eine von Putin gegründete staatliche Stiftung, die weltweit die Kreml-Version der russischen Kultur propagieren soll – ein effektives Softpower-Instrument. Nun befindet sich dort stattdessen ein Theatermuseum. Eine Ausstellungswand ist den Angestellten des Theaters gewidmet, die jetzt in der Armee gegen die russischen Invasoren kämpfen.

Da es heute schon fünf Luftalarme gab, wurde die Abendvorstellung von Anfang an in den Luftschutzkeller verlegt. In dem kleinen Raum mit grauen Betonwänden hat man eine kleine Bühne eingerichtet – sogar mit schwarzem Bühnenvorhang.

Im Stamm Raketensplitter

Es steht an diesem Tag eine französische Komödie auf dem Programm, „Tout payé!“, „Alles ist bezahlt“, von Yves Jamiaque. Die Stimmung ist gelassen. Die Zu­schaue­r:in­nen sind allerdings froh, dass die Luftangriffe dem Theaterabend hier in der stickigen, aber gemütlichen „Luftschutz-Bühne“ nichts anhaben können.

Einmal schon wurde das Theater zum Ziel: Am 22. September 2022 schlug nachts eine S-300 Rakete im Hof des Gebäudes ein, wo eine Open-Air-Bühne für die warme Jahreszeit eingerichtet ist. Swystun zeigt auf einen Baum, im Stamm steckt immer noch ein Raketensplitter.

Obwohl das Geschoss glücklicherweise das Gebäude selbst verfehlte, war der Schaden enorm: Fenster, Wände und Spiegel zerbrachen, Möbel, Computer, Nähmaschinen wurden zerstört, Kostüme beschädigt. Eine im Hof aufgestellte Bacchus-Skulptur verlor beide Arme. In diesem Zustand steht sie noch heute da, als Mahnmal des Krieges.

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