Kultusminister zur Inklusion: Mit Wattestäbchen gegen Ausgrenzung

Die Kultusminister haben ihre Empfehlungen für inklusive Bildung von Kindern vorgestellt. Viele schöne Worte finden die Fachleute. Und Förderschulen soll es weiter geben.

Geht doch: Manche Schulen behindern ihre Schüler nicht. Bild: dpa

"Da steckt ganz viel Poesie drin", raunt eine Dame. Eine andere nickt: "Ja, das ist viel Lyrik." Nein, die beiden sind nicht im Literatursalon, sondern auf einer sehr viel trockeneren Veranstaltung. Die Kultusministerkonferenz hat ihre Empfehlungen für die "Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen" vorgestellt. Und hinter dem Verweis der beiden Damen auf die Dichtkunst steckt verbrämte Kritik: Die Empfehlungen sind wortreich formuliert, klingen gut, sind aber wenig konkret und richtungsweisend.

Im März 2009 hatte Deutschland die UN-Konvention in Kraft gesetzt, die vorsieht, dass Menschen mit Behinderungen aufgrund ihrer Behinderung nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen. Ein deutscher Paradigmenwechsel, wird doch die Mehrheit der knapp 400.000 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf bis dato in separaten Schulen unterrichtet. Nun sind die Bundesländer in der Pflicht, sie in die Regelschulen aufzunehmen, sie inklusiv statt exklusiv zu unterrichten.

Traumhaus der Vielfalt

Zweieinhalb Jahre nach Unterzeichnung besuchen nach Angaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte immer noch vier Fünftel dieser Schüler keine Regelschule. Aber immerhin haben die Kultusminister nun gemeinsame Empfehlungen beschlossen, in denen sie sich zum Grundsatz der Inklusion bekennen.

In den Empfehlungen malen sich die Kultusminister aus, wie eine inklusive Schule aussieht, und das Bild ist in der Tat sehr schön. Der Unterricht in diesem Traumhaus soll der Vielfalt von unterschiedlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen Rechnung tragen, "ganzheitlich" soll er sein und Raum für kreative Entfaltung bieten. Leistung sollen die Schüler dennoch zeigen, so soll der gemeinsame Unterricht die "Standards für allgemeine schulische Abschlüsse berücksichtigen".

Denn wie die Vertreterin des Bremer Bildungssenats, Cornelia von Ilsemann, zutreffend feststellt: "Unser Problem ist, dass die Kinder sich an ihren Sonderschulen oft sehr wohl fühlen, aber dort zu wenig lernen." Der Großteil aller Schüler ohne Schulabschluss kommt pikanterweise aus Schulen mit dem Förderschwerpunkt "Lernen".

Doch wie sie aus diesem Dilemma herauskommen, haben die Kultusminister in ihren Empfehlungen nicht näher ausgeführt. Da heißt es, für den inklusiven Unterricht "könnten" Lehrkräfte mit spezifischen pädagogischen Kompetenzen erforderlich sein. Noch vorsichtiger werden die MinisterInnen, wenn sie skizzieren, wie sich die allgemeinbildende Schule ändern muss: "Die Formen des gemeinsamen Unterrichts werden durch regionale Besonderheiten, das elterliche Wunsch- und Wahlverhalten, individuelle Bedarfe und die Gestaltungsmöglichkeiten der beteiligten Partner bestimmt", heißt es.

Vier Kriterien also, von denen abhängt, ob ein Kind mit Förderbedarf nun mit anderen Kindern unterrichtet werden kann, und nur eines davon hat mit ihm selbst zu tun: der individuelle Bedarf.

"Keine Legitimation für zwei Systeme"

Dieser Satz voller Wenn bildet die Grundlage dessen, was der Amtierende Präsident der Kultusministerkonferenz, Bernd Althusmann (CDU), klarstellt: Der Anspruch auf Inklusion sei keineswegs gleichbedeutend mit der Abschaffung eines differenzierten Förderschulsystems. Und der KMK-Präsident geht noch weiter: "Ich empfehle, das Förderschulsystem parallel aufrechtzuerhalten."

Für die Bayern ist sowieso klar, dass so schnell keine Förderschule geschlossen wird: "So ein Hauruck-Verfahren ist nicht bayerisch", sagt der Vertreter des Bayerischen Kultusministeriums, Erich Weigl. Man schaffe mit Sicherheit keine Förderschule ab, wenn die Qualität in den Regelschulen nicht stimme.

Ein Kriterium wie das elterliche Wunsch- und Wahlverhalten gibt es indes laut UN-Resolution gar nicht, stellte Marianne Hirschberg vom Deutschen Institut für Menschrechte fest, das die Umsetzung der UN-Resolution im Auftrag der UN beobachtet. "Insofern gibt es auch keine Legitimation für zwei Systeme."

Das Institut hatte die Empfehlungen denn auch kritisiert: Man habe gehofft, die Kultusministerkonferenz übernähme stärker die Führungsrolle bei der Anleitung der Bundesländer, die schulische Segregation behinderter Kinder zu überwinden.

Auch der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, der CDU-Politiker Hubert Hüppe, ist enttäuscht: Die Kultusminister machten mit ihrem Beschluss nicht klar, dass der erste Förderort für alle Kinder die Regelschule sei. "Ich kenne kein Kind, das vom Besuch der Förderschule abgehalten wurde. Probleme gibt es erst, wenn das Kind auf eine Schule gehen will, wo auch die anderen Kinder lernen."

Demografie könnte Inklusion fördern

In Bremen lernen bereits alle Grundschüler gemeinsam. Spätestens 2013 werden nach Auskunft von Ilsemanns auch die Oberschulen alle Kinder aufnehmen, die als lernschwach, verhaltensauffällig gelten oder Sprachförderung brauchen. Sie bilden unter den Kindern mit Behinderungen die satte Mehrheit. Bereits jetzt ziehen es 80 Prozent der betroffenen Bremer Eltern vor, ihre Kinder auf eine solche Regelschule zu schicken.

Andere Länder brauchen länger: junge Lehrer müssen ausgebildet, gestandene fortgebildet, Eltern überzeugt werden. Althusmann sagt für Niedersachsen eine Transformationszeit von zehn Jahren voraus.

Einen Faktor gibt es jedoch, der den behäbigen Inklusionstross aus Kultusministern, Lehrern und Schulträgern in den kommenden Jahren aufmischen wird: der demografische Wandel. Vorreiter ist Exklusionsspitzenreiter Mecklenburg-Vorpommern. Hier, wo jeder zehnte Schüler eine Förderschule besucht, wird es 2020 ein Drittel weniger Schüler geben. Die Schweriner Vertreterin seufzt: "Wenn wir nicht den Weg der Inklusion gehen, gefährden wir die Erreichbarkeit von Schulen."

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