Kunstfest Weimar setzt auf Vielfalt: Der Disput mit der Mutter zehrt Kraft
Beim Kunstfest Weimar trifft Goethes Faust auf Elon Musk. Berührender war ein Stück über den Mut, in Russland heute Aufklärungsarbeit zu leisten.

Frau Holle entdeckt es als erste: Der Kloß, der die Veranstaltung auf dem Theaterplatz moderiert, sieht ein bisschen blass aus. Und ja, sagt das von einer Schauspielerin verkörperte inoffizielle Thüringer Wahrzeichen: Der Blick in die kulturell ruhmreiche und politisch schmachvolle Vergangenheit sei ja schön und gut. Als auch schon recht alte Symbolfigur wünsche er sich aber ein bisschen mehr Zukunft.
Zwei Tage zuvor appellierte am gleichen Ort die erste jüdische Bundesministerin Karin Prien (Ressort Bildung), die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht zu vernachlässigen. Beim Kunstfest Weimar, der siebten und letzten Ausgabe unter der Leitung von Rolf C. Hemke, gibt es beides: Geschichtsbewusstsein und Visionen für das, was das Festivalmotto „Mutig leben“ nennt.
In weit über 100 Veranstaltungen sind nicht nur alle Kunstsparten vertreten, sondern es ist auch für jeden etwas geboten: Ein Vortrag über die unterschätzte Krankheit CFS (Chronisches Fatigue-Syndrom) steht neben der Mitsingveranstaltung „Thüringen Tralala“, eine mild-verstörende Kurz-VR-Performance aus Taiwan neben einem Buchenwald-Gedächtnis-Konzert. Und vieles davon holt bei freiem Eintritt die Leute direkt auf der Straße ab.
Die subtilste Message für das Bundesland, in dem zuletzt fast 39 Prozent der Menschen AfD wählten, sendet das Festivalprogramm selbst: Die Mischung macht’s! Viele Nationalitäten und Haltungen haben hier nebeneinander Platz. Kurz bevor der libanesische Tänzer und Choreograf Omar Rajeh das Kunstfest mit einer überaus freundlichen, umarmenden Tanz-Performance offiziell eröffnete, hat die aus Jerusalem stammende Künstlerin Sigalit Landau den Turm des von NS-Zwangsarbeitern errichteten Gauforums in einen Erinnerungsort an die Befreiung verwandelt.
Wie nahe einem geografisch weit entfernte Ereignisse inzwischen nicht nur durch die Nachrichten kommen, zeigt auf seine Weise auch die Uraufführung von „FaustX“, die der südafrikanische Regisseur Brett Bailey mit seiner Truppe „First World Bunfight“, einer Dramaturgin namens ChatGPT und einem rant auf den weltweit wohl bekanntesten Südafrikaner angerührt hat. Der die Plattform X kontrollierende spielsüchtige Multimilliardär, ehemalige verlängerte Arm von Trump und Planet-B-Siedler in spe Elon Musk ist hier Faust.
Geopolitisches Stationendrama
Was passt und auch wieder nicht. Denn in „der Tragödie zweitem Teil“ hat Goethe den „Habe nun, ach!“ Philosophie-, Juristerei- und mehr Studierten zwar vollends dem Größenwahn anheimfallen lassen. Aber eine Grund-Gewissenspein bleibt dem Faust doch immer. In Baileys fiebrigem geopolitischen Stationendrama ist sie abgeschafft. Ebenso wie die Hoffnung darauf, dass sich inhaltliche Fäden spinnen lassen könnten zwischen den von acht Performer*innen mit afrikanisch und futurisch anmutenden Masken gespielten Szenen und der hektischen Sound- und Video-Collage.
Murnaus „Faust“-Stummfilm, zerstörte Städte, Drohnen über der Ukraine, Bomben über Gaza und wogendes Gras sind zu sehen. Einblendungen wie „MMS wurde versendet“ oder „Die neue Riviera“ weisen die Bilder als Social-Media-Content aus. Mit einer Kreissäge stapfen gleich mehrere Musk-Fausts und ihre mephistofelischen Dealmaker-Kumpels durch die globalen Krisengebiete und zetteln weitere Kriege und Umsiedlungen an.
Auf seinem goldenen Macbook spielt Faust die betörende Musik des Geldes. Auf dem Video regnet es gezeichnete Bitcoins, und in eckigen Gedankenblasen von vier afrikanischen Herrschern ploppen klassische Sehnsüchte auf: teure Uhren, Häuser, Autos. Der kapitalistische Kolonisator bekommt im Gegenzug ein Löwen-Szepter überreicht.
Inhaltlich subtil ist das nicht, aber auch nicht so radikal wie der exotische „Menschenzoo“ im Stück „Exhibit B“, mit dem Bailey in Deutschland bekannt wurde. Aber die zwischen Star-Wars-Universum, Stammesritualen, griechischem Maskentheater und KI generierten Videos mäandernde Bilderflut ist so imposant wie die dahintersteckende Wut. Bloß kann man sich immer nur entweder auf die Bilder oder auf die auf Übertitel, Sprechblasen und Transparente verteilten Texte der mehrsprachigen Aufführung konzentrieren. Also entweder wahrnehmen oder verstehen. Beides gleichzeitig geht leider nicht. Entsprechend ist der Albtraum vom technokratisch induzierten Weltenbrand auch schnell wieder abgeschüttelt.
Fast konträr dazu geht die zweite Uraufführung auf dem Kunstfest vor. „Das Land, das ich liebe“ ist eine szenische Installation nach einem Buch von Jelena Kostjutschenko. In ihm schreibt die im deutschen Exil lebende ehemalige Investigativjournalistin über ihre allmähliche Sensibilisierung für die Strategien der russischen Staatspropaganda und ihr Leben als lesbische Frau in einer queer- und frauenfeindlichen Gesellschaft. Zwischen ihren Reportagen für die inzwischen von Putin verbotene Nowaja Gaseta führte Kostjutschenko offenbar müßige Diskussionen mit ihrer Mutter, die der Meinung ist, die weißen Felsen der Krim hätten schon immer zu Russland gehört und alle Ukrainer seien Faschisten.
Erstarrt in Putin-Treue
Gleich sechs Video-Konterfeis dieser Putin-treuen Frau sind auf dem Höhepunkt dieses fruchtlosen Disputs auf den hohen Wänden der Weimarer KET-Halle zu sehen. Der schroffen Schönheit der Industriearchitetektur begegnen Anna Narinskaya (Konzept) und Polina Solotowizki (Regie) mit ästhetischer Zurückhaltung. Zehn Menschen sitzen an zirpenden Technik-Pulten auf der nahezu leeren Bühne, markieren mit Schreibmaschinenklappern den Redaktionsalltag oder swingen am Platz mit der rhythmisch pulsierenden Musik.
Einer der drei deutschen Schauspieler*innen verkörpert in einer besonders bedrückenden Szene ganz allein ein männerdominiertes System aus Angst, Erpressung und Zudringlichkeit und muss dafür noch nicht einmal seinen rollenden Bürostuhl verlassen. Das gelingt aber nur, weil die russische Performerin Evgenia Borzykh sein Gegenüber ist. Sie besetzt das Zentrum des Abends und kann all das spielen: was es bedeutet, mutig zu leben, wenn dieser Mut einen das Leben kosten kann. Und was es bedeuteten würde, aufzugeben: den Mut und damit auch das Land, das sie trotz allem liebt. Eine (russische) Perspektive, die im Exiltheater dieser Tage selten beleuchtet wird.
Im Taiwan-Schwerpunkt steht dann wieder ein bedrohtes, kaum irgendwo als unabhängig von China anerkanntes Land im Fokus. Im Bauhaus-Museum ist Ivan Lius Installation „Echoes of the Land“ zu sehen, die die Empfindlichkeit des komplexen seismischen Systems der Erde für die Eingriffe des Menschen erfahrbar macht und die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Kunst überbrückt. Der „Focasa Circus“ aus Taipeh dagegen malt mit den Mitteln des Tanzes und der Akrobatik ein melancholisches Porträt einer Gruppe von Freunden für alle Generationen. Die Tradition des Nouveau Cirque ist in Taiwan noch jung und das deutsch-taiwanesische Choreograf*innen-Duo „Peculiar Man“ ist vom Tanztheater Pina Bauschs geprägt. So wartet die fünfköpfige Zirkus-Boygroup nicht mit halsbrecherischen Hochglanznummern auf, sondern zeigt sich langsam entwickelnde Situationen mit Vorgeschichte, die von Einsamkeit und Zugehörigkeit handeln. Handstand-Artistik und Jonglage, Cyr-, Kampf- und andere Nummern passieren hier fast nebenbei und haben sich den Charme von Kinderspielen bewahrt. Schön!
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