Lärm: Fenster zu!

Das lauteste Haus Hamburgs liegt vermutlich an den Elbbrücken. Dennoch arbeiten zwischen acht Fahrbahnen, zwei Busspuren und dröhnenden Güterzügen Menschen. Wie - das erzählen sie selbst.

Lieber nicht so oft lüften: das lauteste Haus Hamburgs. Bild: Hannes von der Fecht

Es ist dieses Grundrauschen. Wo immer man sich befindet im Haus: Am Fuße des Parterres, ganz oben unterm Dach, auf den Stufen des schnörkellosen Treppenhauses dazwischen oder in einem der vielen Büros auf sieben Etagen - nirgends ist dem unablässigen Bass von draußen ganz zu entgehen. Und dann öffnet Andreas Damm das Fenster, ganz kurz nur, zur Veranschaulichung: "Hören Sie?", fragt er und lacht. "Sie hören nichts." In der Tat. Nichts zumindest außer einem konstanten Klangteppich von 118.000 Kraftfahrzeugen täglich. Gespräche sind so kaum möglich.

Andreas Damm kennt es nicht anders, er hat sich daran gewöhnt, auch wenn ihm am Abend, bei der Heimkehr nach Buxtehude, manchmal die Ohren sausen. Seit 22 Jahren schon arbeitet er mit Blick auf die Neuen Elbbrücken und geändert hat sich seither wenig. Immerhin auch nicht zum Negativen: "1987 sind hier genauso viele Autos vorbeigekommen wie heute", sagt er, und wieder dieses fröhliche Fortlachen einer ernsten Sache. "Aber damals hatten wir schlechtere Scheiben." Da stand sein Büro auch bei geschlossenem Fenster unter Schallbeschuss. Der Winter geht heute sogar.

Im Architektenvokabular nennt sich das Haus, in dem seine kleine Schiffszubehörfirma sitzt, "Solitär". Gibt es nicht eine Art Computer-Patience, die so ähnlich heißt wie diese Form Haus ohne direkte Nachbarn, allein stehend, ungeschützt von allen Seiten? Doch an diesem Ort kann von besinnlicher Entspannung keine Rede sein: Billhorner Brückenstraße, vier Fahrbahnen links, vier Fahrbahnen rechts, dazu die Güterzugschienen von hinten, zwei Buslinien von vorn und ein tiefer gelegter Resonanzkörper wenige Meter südlich, wo Rothenburgsort per Tunnel unter der Schlagader hinwegtaucht.

Das bedeutet Lärm von allen Seiten. Nachts kaum weniger als am Tag, tagsüber ohne Unterlass. Das Haus mit der Nummer 40, es ist zweifellos eines der lautesten der Stadt. Und wenn schon, sagt Andreas Damm aus dem fünften Stock, "dafür sind die Mieten günstig". Und wenn schon, pflichtet Melanie Weck eine Etage höher bei, "dafür ist das hier unglaublich zentral gelegen". Und wenn schon, meint, fast zu ebener Erde, Stefan Wulff, "wir wissen ja, in welcher Zeit wir leben". Der motorisierten nämlich, der mobilen, einer Zeit in Bewegung, immer, überall, so schnell wie möglich. "Da gehört Lärm nun mal dazu."

Es zeigt sich also, dass er eine ziemlich relative Angelegenheit ist für die Menschen im merkwürdigsten Haus der Stadt. Jenem grauweißen Klotz, der mit seinem Stern, Symbol einer deutschen Automarke, Herausfahrende verabschiedet. Und Hereinfahrende mit der Uhrzeit begrüßt, ganz rechts, dritte Fensterreihe von oben. Hinter den Fensterreihen arbeiten, auch wenn die Verwaltung per Anschlag Gewerbetreibende sucht, überraschend viele und sie sehen es meist ebenso überraschend gelassen, was die Lärmschutzverordnung an anderer Stelle als gesundheitsgefährdend einstuft: Mehr als 70 Dezibel Emissionsbelastung. Hier sind es sogar 75. Mindestens. Das könne man nicht so genau sagen, meint Hans-Heinrich Wendland, und der Mann von der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt muss es wissen. Amtsintern gilt er als Lärmchef und akustische Schallerhebungen, so Wendland, "sind nur Momentaufnahmen". Messort und -zeit, Wetterlage oder Lkw-Aufkommen, dazu Bautätigkeiten, Saison, Ferientermine - "da variieren die Werte um bis zu 20 Dezibel".

Also wird der Schall strategisch erfasst, wie es heißt. Autos zählen und auswerten. Im sechsstelligen Bereich pro Kalendertag macht das eine Belastung, die sonst nur Anrainer an innerstädtischen Autobahnauffahrten und Kreuzungen mit S-Bahntrasse erdulden müssen, dort, wo zwar weniger Autos verkehren, aber ihr Geräusch von dichterer Bebauung verstärkt wird. Dafür herrscht an der Rückseite meist Ruhe. Die Belastungskarte des Umweltamtes an den Elbbrücken zeigt indes: der Solitär ist blauviolett umrandet, die Farbe des Höchstwertes von vier Seiten, laut wie ein alter Staubsauger. "Wir sehen das positiv", sagt Stefan Wulff, "wers hier aushält, hälts überall aus."

Für den grauhaarigen Toningenieur ist der Pegel jedenfalls kein Problem - nach 30 Jahren Arbeit in der Nr. 40. Und seine Kunden, Bands wie Blumfeld oder Vorleser wie Christian Redl, machen ihre Aufnahmen ohnehin im voll isolierten Bereich. Sicher, nach Feierabend erwarte einen zunächst mal nicht das freundlichste Ambiente. Aber die Lage, wie gesagt: 1 a. Auch wenn die Zufahrt vom Norden her unlängst gesperrt wurde, wegen angeblicher Unfallgefahr mit der Busspur. "Also ich bin abends schon kaputter, seit ich hier arbeite", sagt dagegen Melanie Weck im lichtdurchfluteten Konferenzraum ihres Stadtplanungsbüros unterm Dach. Das heißt - sie ruft es mehr, bis die 32-Jährige das Fenster schließt, das sie kurz geöffnet hat, zum Durchlüften. Aber belastend? Auszehrend? Stressig? Nein, nein, sagt die Bauzeichnerin, die Bürogeräte - Computer, Server, Drucker, Telefone, alles im Dutzend - seien ja auch höchst emissiv. Krach gehöre zum Alltag des modernen Berufslebens im Dienstleistungsgewerbe dazu wie die Hektik.

Es sind die Schnittstellen zwischen Kultur und Marketing: Graffiti, Architektur, Grafik, Kunst, ein Onlineradio, die sich hier angesiedelt haben. Alle "Werktätigen im Haus", sagt eine eilige Hausbenutzerin im Fahrstuhl, eint eine gewisse "Dickfelligkeit im Dialog mit den äußeren Umständen". Schön. Das außerordentliche Wir-da-drinnen im kreativen Austausch mit dem alltäglichen Ihr-da-draußen.

Als das Gebäude in den Fünfzigern erbaut wurde, blickte das Personal eines Labortechnikherstellers, dem das Haus seinen Lastenaufzug zu verdanken hat, auf eine schmale Brücke mit sporadischem Kfz-Aufkommen. Erst 1960, durch die Verfünffachung der Spuren plus Straßenbahn in der Mitte, wurde die Welt vor und hinter der Fassade lauter. Erstaunlich, dass sich bis 2008 ein Angelausstatter im städtischen Gemäuer hielt. Vielleicht hat sie auch das wachsende Verkehrsaufkommen herausgetrieben. Denn fünf Dezibel mehr und der Arbeitsschutz schreitet ein. Wobei: Köderverkauf mit Ohrenschutz - das wäre ja auch wieder irgendwie Kunst.

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