Lauter Stummfilm auf der Berlinale: Sound der Russischen Revolution

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielt die rekonstruierte Filmmusik von Sergej Eisensteins "Oktober"

Einer der ganz Großen des Kinos: Regisseur Sergej Eisenstein Bild: ap

Die Rote Armee hat wieder einmal das Haus des Rundfunks an der Masurenallee besetzt. Im Unterschied zu 1945, als die russischen Militärs den Sender mit harter Hand kontrollierten, geschieht es diesmal mit Musik. Im Großen Sendesaal des Rundfunks Berlin Brandenburg (rbb) probt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) mit Pauken und Trompeten die Filmmusik zu Sergej M. Eisensteins "Oktober" (1928). Der Stummfilmklassiker erzählt die Geschichte der Oktoberrevolution 1917 samt Sturm der Bolschewisten auf das Winterpalais.

Dass der Sturz der alten Zarenmacht sich nicht für eine süßliche Musiksprache eignet, spürt man förmlich: Der metallisch-stampfende Sound zur Revolution, von Edmund Meisel 1927/28 komponiert, dröhnt. Der Klangraum bebt. Trommelschläge gleichen Kanonenböller, Schlagzeuge und Becken paraphrasieren krachend Gewehrsalven, Streicher lassen die Massen gegen die Militärs im Kontrapunkt hin- und herwiegen. Holt die Revolution einmal Atem, begleitet ein Klavier die Szene.

Frank Strobel, Dirigent und renommierter Filmmusikexperte, hat vor seinem Pult einen Monitor aufbauen lassen. Eisensteins "Oktober" flimmert auf dem Bildschirm. Nur Strobel sieht - wie bei der Aufführung - den Film. Die 85 Musiker haben das Bild im Rücken.

"Und los gehts, bitte." Strobel, 46, schwarz gekleidet, voller Energie und guter Laune, lässt den Taktstock in der Luft tanzen und führt das Orchester durch Eisensteins Filmwelt. "Weil nur ich den Film sehe, ist es meine Aufgabe, die Bildsequenzen in das Orchester hinein zu übersetzen", sagt er.

Das gelingt. Eisensteins Film, die unglaublich schnelle Montage, Großaufnahmen oder Massenszenen werden als Klang, im Rhythmus, in piano oder forte, mal schneller, mal langsamer vom Orchester als musikalische Illustrationen gespiegelt. Der Taktstock treibt die Musiker in dramatische, tragende oder sanftere Tonlagen. Die Musik steigert das Kunstwerk Film, Bild und Ton bilden eine Synthese - oder Antithese.

Für "Oktober" haben Strobel und die Musiker drei Proben und eine Generalprobe angesetzt, mehr nicht. Ziemlich wenig Spielraum? "Nein, locker Zeit bis zur Vorstellung", bei der die rekonstruierte Komposition Meisels auf der Retrospektive der 62. Berlinale uraufgeführt wird, lächelt die 2. Violine. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und Strobel sind in Sachen Filmkomposition geübt, sie sind Spezialisten, meint Drop.

Zur Eröffnung der Retrospektive präsentiert die Berlinale in einer Gala im Friedrichstadtpalast am Freitagabend um 21 Uhr Sergej Eisensteins Klassiker "Oktjabr" (Oktober, 1928) mit Vasili Nikandrov, Vladimir Popov und Eduard Tissé. Den Stummfilm über die Oktoberrevolution samt Sturm auf das Winterpalais von 1917, der wegen seiner Massenszenen und Montagen Filmgeschichte schrieb, begleitet das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Frank Strobel.

Die diesjährige Retrospektive der Filmfestspiele widmet sich den Produktionen des legendären deutsch-russischen Filmstudios Meschrabpom-Film und seiner deutschen Filiale, der Prometheus-Film. Von 1922 bis 1936 verfilmte das russisch-deutsche Filmunternehmen als "rote Traumfabrik" rund 600 Filme.

Die Retrospektive auf der Berlinale umfasst rund 30 Programme mit über 40 Stumm- und Tonfilmen. Alle Stummfilme, die gezeigt werden, werden mit Live-Musik begleitet. (rola)

Schon 2010 haben sie auf dem Filmfestival mit der neuen erweiterten Film- und Musikfassung von Fritz Langs "Metropolis" für Furore gesorgt. Nach Einspielungen von Sergej Prokofjews Filmmusik zu "Alexander Newski" (Eisenstein, 1938), Meisels "Berlin, die Sinfonie der Großstadt" (Walther Ruttmann, 1927) oder Interpretation der Filmmusiken von Alfred Schmittke soll "Oktober" wieder ein Knaller auf der Berlinale werden.

Stück für Stück, Takt für Takt, Akt für Akt der modernen, dynamischen Komposition aus den 20er Jahren arbeiten sich Musiker voran. "Wenn Sie wüssten, was gerade im Film passiert, hätten Sie hier das Tempo gehalten", frotzelt Strobel einmal mit der Posaune, als Lenin im Film die Faust reckend tobt und dazu die Kanonen schießen, aber "das Blech" nicht adäquat mit dabei war.

Damit Bild und Ton wie von Meisel 1927 abgestimmt sich formal und inhaltlich decken, sind auf der Partitur mehr als 1.500 sogenannte Synchronpunkte eingezeichnet, der Eisenstein-Film und seine Musik sind überaus komplex. Eisensteins Klassiker "Oktober", findet Strobel, "ist ein großes Werk, ein Mythos, auch weil der Film nach der Uraufführung verschwand". Dass er 1960 wiederaufgetaucht sei, bedeutete "ein Glücksfall auch für die Geschichte der Filmkomposition", so der Dirigent. Wenn man sich den Streifen und die Musik anschaue, "gewinnt man den Eindruck, dass der Film unglaublich modern, so schnell wie ein Video-Clip ist".

"Oktober" ist nach "Panzerkreuzer Potemkin" (1925) Eisensteins wichtigster Film. Er zeichnet die geschichtlichen Prozesse von der Februarrevolution in Russland bis zum Oktober 1917 nach und kommentiert die Ereignisse durch seine Montagetechnik mit Pathos, aber auch mit viel Ironie. Der Film entstand im Auftrag des Exekutivkomitees der KPdSU zur Feier des 10. Jahrestags der Oktoberrevolution. Eisenstein setzte allerdings der kämpfenden Bevölkerung Petrograds und den früheren Kampfgenossen Lenins - darunter Leo Trotzki - ein Denkmal. Für Stalin ein Grund, den Kinofilm abzuschießen.

Mit dem verbannten Film geriet auch Edmud Meisels Komposition für die deutsche Verleihfassung in Vergessenheit. Zwar erarbeitete in den 1960er Jahren Naum Klejman im Moskauer Staatlichen Filmarchiv Gosfilmofond eine filmwissenschaftlich fundierte Rekonstruktion der eine Stunde und 58 Minuten dauernden "Premierenfassung" von 1928. Die Musik Meisels blieb aber bis auf Rudimente in der Versenkung.

Bernd Thewes, Komponist aus Frankfurt, ist auch zur Probe in das Haus des Rundfunks gekommen. Er und Stobel kennen sich gut. Thewes hat vor Jahren eine "Klavierfassung Meisels für Oktober" aus Archiven ausgegraben und mit weiteren "Überlieferungen von Stimmen" langsam, aber beständig zusammengebastelt.

Als die Sender ZDF und Arte ihn 2010 mit der Rekonstruktion beauftragten, "habe ich die komplette Orchestrierung synchron zum Film aus dem Klavierauszug und weiteren Stimmen erarbeitet. Dabei flossen die Ideen Meisels mit ein." Entstanden ist in fast zweijähriger Arbeit eine "ergänzende Komposition" aus seiner Hand, sagt Thewes: Der moderne Komponist ist quasi in Meisel geschlüpft, hat sich seine geräuschhafte Klanglichkeit und den vorwärts drängenden Rhythmus zu eigen gemacht.

Strobel überzeugt die Interpretation von Bernd Thewes. Die Musik, sagt er, nehme zwar Stellung zum Film, doch die beiden Medien "sind Partner, sie ergänzen sich, die Musik zwingt den Film und das Bild nicht in die zweite Reihe". Ein größeres Kompliment kann man dem Komponisten kaum machen.

Nach einem Probentag kann man dies der Filmkomposition im Wesentlichen attestieren. Mal dahingestellt, ob die lauten Posaunen und peitschenden Schlaginstrumente bei den stürmenden Massen im Bild nicht doch zu dick aufgetragen sind, ist das Werk ein wunderbarer Kommentar zu Eisensteins "Oktober".

Als Strobel den Taktstock zu Seite legt, hat es musikalisch gedonnert bis zart poetisch geflüstert. Die Filmmusik untermalt die Bilder nicht, sie ist musikalischer Zeitgeist. Es sind Töne, die man aus Meisels Filmkomposition für "Berlin, die Sinfonie der Großstadt" gut kennt. Und selbst der metallische Sound, der an ein wenig Techno erinnert, erhärtet nur das Argument, dass "Oktober" sowohl als Film als auch als Komposition ein Beispiel der Moderne war und ist. Die klingt nicht immer schön, ist aber voll cooler Spannung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.