Leben nach dem Knast: „Das ist alles Dreck da drinnen“

Klaus Witt war schon als Kind kriminell. 30 Jahre hat er im Gefängnis gesessen. In der Freiheit muss er damit zurechtkommen, dass er allein ist.

Zellenabschluß – 30 lange Jahre. Bild: dpa

taz: Herr Witt, Sie wurden vor neun Monaten aus der Sicherungsverwahrung entlassen. Lange Jahre wussten Sie nicht, wann und ob dieser Tag kommen würde. Wie feiern Sie dieses Jahr Weihnachten?

Klaus Witt: Hm.

Weihnachtsbaum, Geschenke auspacken…

1997 feierte ich mit meiner damaligen Lebensgefährtin. Das war das schönste Weihnachten, an das ich mich erinnern kann. Da hatte ich sogar einen Weihnachtsbaum aufgestellt.

Das war in der kurzen Phase in Freiheit. Wie war es in den übrigen 30 Jahren im Gefängnis?

Ach …

ist in Berlin geboren und 60 Jahre alt. Weihnachten verbringt er bei einem Freund in Oranienburg, für die Karibik reicht das Geld noch nicht. Witt hat über die Hälfte seines Lebens wegen Raubüberfällen aller Art im Gefängnis verbracht, die letzten 13 Jahre am Stück. Anfang 2012 wurde er in die Freiheit entlassen.

Egal?

Scheißegal. Ich habe einen Horror vor der Zeit.

Was ist nicht scheißegal?

Freiheit. Das Wichtigste ist, dass ich meine Entscheidungen alleine treffen kann. Aber die Freiheit genießen, weil man Geld und einen Job hat, ist was anderes.

Wie war der erste Tag in Freiheit?

Ich bin ich einen Tag vor der Entlassung zu den Bullen. Ich hatte mir vorher über einen Kumpel eine Wohnung besorgt und brauchte Geld für die Kaution. Ich sage: Ich muss noch mal zur Zahlstelle, brauche Geld. Wie viel denn, fragt der. Ich sage: 1.600. Die sagen, das muss ich mir genehmigen lassen. Ich sage: Erstens ist das mein Geld, und zweitens ich werde morgen entlassen! Da ist der runter zum Teilanstaltsleiter, und der sagt, ich dürfe nur 400 Euro mitnehmen. Ich sage: Warum? Und der sagt: Wegen Fluchtgefahr.

Und dann?

Ich habe gedacht, ich höre nicht richtig. Mit so einem Mist haben die mir die Bude versaut.

Was haben Sie in Freiheit als Erstes gemacht?

Ich habe mir Papiere besorgt, eine AOK-Karte, und was man so macht: das Leben genießen.

Zum Beispiel?

Die wilden Zeiten sind ja vorbei. Man genießt gewisse Sachen. Aber man stellt nach 13 Jahren Knast auch fest, dass man bestimmte Sachen überbewertet hat.

Das heißt?

Man merkt, dass man aus einer anderen Generation kommt. Ich hatte eine Beziehung zu einer Fotografin. Da habe ich so Sachen gemerkt wie Unzuverlässigkeit, und da habe ich gesagt: Das passt mir nicht.

Wie lange ging die Beziehung?

Vier Wochen. Bis vor Kurzem hatte ich wieder eine Beziehung. Doch irgendwann kommt immer die Frage nach meiner Vergangenheit. Sie hatte damit vielleicht keine Probleme, aber das Umfeld. Da merkt man, das man ein Einzelgänger geworden ist.

Erzählen Sie freimütig von Ihrer Vergangenheit oder kommt die Fragen eher vom Gegenüber?

Das kommt darauf an. Wenn der Kontakt intensiver wird, spiele ich mit offenen Karten. Ich habe keinen Bock, lange rumzumachen. Arbeitsmäßig spielt sich sowieso nichts ab. Ich bin zum Arbeitsamt und habe gesagt: Finanziert mir einen Führerschein, dann habe ich eine Möglichkeit. Da haben die sich krummgemacht bis zum Abwinken. Läuft nicht.

Mit welcher Begründung?

Der Arbeitgeber soll das vorfinanzieren. Da sag ich: Ich muss doch erst mal einen Arbeitgeber finden. Der Weg ist doch ein anderer. Wenn ich einen Führerschein habe, finde ich leichter Arbeit. Aber wenn ich zum Arbeitgeber gehe, fragt der mich: Was haben Sie denn die letzten 30 Jahre gemacht? Das Jobcenter wollte mir was auf 400-Euro-Basis vermitteln. Sind die beknackt? Das ist überhaupt nicht drin.

Haben Sie eine Idee, was Sie machen können, damit Sie nicht wieder kriminell werden?

Da gibt es keine Idee. Ich gehe ab und zu pokern, weil ich das ganz gut kann. Verdiene da ein paar Mark. Ich merke aber deutlich: Du hast keine Chance, auf die Füße zu kommen.

Haben Sie Angst, wieder in den Knast zu kommen?

Nein, eigentlich nicht. Ich würde es nicht mehr überstehen. Ich würde einen Schlussstrich ziehen.

Wie wirkte sich das Gefängnis auf Sie aus?

Das hat viel kaputtgemacht. Man soll ja draußen soziale Kontakte aufbauen. Man hat aber keine Gemeinsamkeiten mit den Menschen draußen. Die haben andere Interessen. In der Kneipe zu sitzen, geht mir zum Beispiel auf den Zünder. Dieses Gelaber. Ich habe es mal in einem Fußballverein für alte Herren versucht. Da hat man hinterher zusammengesessen. Die sprechen über Arbeit, Familie. Da hast du keinen Bezug zu. Willst du da irgendeine Geschichte erfinden?

Sie haben eine Knastidentität?

Mit der Mentalität im Knast habe ich nichts am Hut. Das ist auch alles Dreck da drinnen. Im Prinzip bist du einsam. Du bist allein und musst damit klarkommen. Die letzte Freundin sagte immer zu mir: Hör doch mal auf, nachzudenken.

Worüber denken Sie denn nach?

Ich bin unzufrieden. Wie will man mit 374 Euro am Leben teilnehmen? Wie soll das gehen? Soll ich mich in meine Wohnung zurückziehen und vorm Fernseher verblöden? Man ist dazu verdammt, nicht am Leben teilzunehmen. Ich konnte mir ja im Knast mehr leisten. Ich habe 260 Euro verdient und bekam Essen und Trinken umsonst. Ich konnte ansparen, und wenn ich Ausführung hatte, konnte ich mir was leisten.

Glauben Sie noch daran, einen regulären Job zu finden?

Ich bin 60, und mit meiner Biografie ist das unrealistisch. Es gibt so viele Arbeitslose, die haben Berufe gelernt, und jetzt komme ich und sage: Hallo, ich will Arbeit haben. Ja, wer sind Sie denn? Ja, ich bin der, der 30 Jahre in der Kisten gesessen hat. Du kriegst den Knast nicht aus dem Kopp raus.

Aber Sie haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, oder?

Dann wäre ich tot.

Haben Sie sich jetzt Ziele gesetzt?

Mit der letzten Frau hatte ich mir eine Zukunft vorgestellt. Das war sehr intensiv, wir hatten schon eine Wohnung, und dann ist alles geplatzt. Das ist momentan ein Problem. Ich lebe dahin, von einem Tag in den anderen. Das Gute ist, ich hau mir keine Drogen in den Schädel. Wenn ich anders gestrickt wäre, wäre ich vielleicht eine Gefahr für die Allgemeinheit.

Weil der Frust so groß ist?

Richtig. Ich könnte mir vorstellen, dass da einer mal Amok läuft, dass er sich sagt: Ich habe versucht, mit allen Mittel auf die Beine zu kommen. Man hat mir keine Chance gegeben.

Woran liegt das?

Die müssten Programme für Leute wie mich haben, damit man eine Chance hat, legal zu leben. Aber das ist nicht der Fall. Ich rede nicht von den Jungen, aber die Leute im Knast werden ja immer älter. Entweder gehen sie krank und kaputt raus, als Fall fürs Pflegeheim, oder sie haben keine Chance.

Denken Sie jetzt als 60-Jähriger öfter an Ihre Kindheit, wo es noch keine Kriminalität gab?

Ich war ja als Kind schon kriminell. Ich habe schon mit zehn Jahren geklaut.

Was haben Sie geklaut?

Ich habe in der Nollendorfstraße gewohnt, bin zum KaDeWe gelaufen und habe Spielzeug geklaut.

Gab es nichts Positives in Ihrer Kindheit?

Fürsorgeerziehung ist nichts Positives. Ich versuche, mich nicht mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Das bringt nichts. Das war einmal und ist nicht mehr.

Wie kam es, dass Sie schon als Kind geklaut haben?

Wahrscheinlich soziale Umstände. Mutter Alkoholikerin, im Heim gelebt. Ich habe jetzt zu zwei Bekannten aus dem Heim wieder Kontakt. Wir sind die einzigen Überlebenden.

Überlebenden?

Ja. Wir haben uns unterhalten und einer sagte: Wir sind Überlebenskünstler. Wir haben es geschafft durch diese ganze Scheiße. Aber wir haben natürlich auch einen Haufen Defizite.

Was machen die anderen?

Bei einem weiß ich es nicht. Er ist in Thailand oder in Haft. Der andere wohnt in Oranienburg. Wir haben uns zufällig in einer Kneipe getroffen. Davor hatten wir uns 50 Jahre nicht gesehen.

War er auch im Gefängnis?

Ja. 1965 waren 40 Leute in dieser Fürsorgeerziehung. Von diesen 40 sind alle kriminell geworden. Alle! Kinderficker, Mörder, Rauschgifthändler. Wirklich alles vertreten, was Sie sich denken können.

Wie erklären Sie sich das?

Wenn einer weiß, wie ’65 die Methoden waren. Das war schlimmer als Knast. So einen Arrest, wie ich ihn da gemacht habe, habe ich nie wieder erlebt. Das waren Schweine. Erzieher aus der Nazizeit, Drecksäcke. Wenn man die draußen treffen würde … Es gibt einen Film mit Johnny Depp, der seine Erzieher, die ihn sexuell missbraucht haben, in einer Kneipe sieht und erschießt. Das waren Schweine, absolute Schweine.

Warum sind Sie die einzigen Überlebenden?

Selbstdisziplin. Ich habe im Knast Leute kennengelernt, die gemeint haben, sie wären stark. Die waren aber nur stark gegenüber anderen. In dem Moment, wo sie Selbstdisziplin zeigen mussten, sind sie eingebrochen. Da hat man gesehen, was das teilweise für Schwächlinge sind. Nur mit Selbstdisziplin habe ich die 30 Jahre überlebt. Das ist kein Kampf nach außen, den musste ich mit mir selbst führen.

Wie?

Man braucht ein Ziel. Ich wollte nicht im Knast krepieren. Ich wollte raus. Okay, irgendwann kippt man um und ist tot. Die Vorstellung aber, dass ich in so einer Schweinezelle den Löffel abgebe, hat mich verrückt gemacht.

Hatten Sie früher konventionellere Ziel?

Als kleiner Bengel wollte ich zur See fahren.

Kennen Sie Leute, die aus dem Knast raus sind und bei denen es besser funktioniert hat, als bei Ihnen?

Legal?

Ja.

Kenne ich keine.

Glauben Sie, es gibt ein Happy End?

Was ist das?

Immerhin sind Sie entlassen worden. Als Sicherungsverwahrter brauchten Sie ein positives Gutachten.

Ich hatte ja genug andere Gutachten. Aber ich habe trotz dieser Vollidioten weiter gekämpft. Die letzten 13 Jahre waren die schlimmsten in meinem Leben.

Weil Sie in Sicherungsverwahrung nicht wussten, wann Sie wieder rauskommen?

Ja, aber ich habe mir eine Grenze gesetzt, wo ich wusste, da werde ich dann eine Entscheidung fällen.

Ausbruch?

Das wäre die letzte Entscheidung gewesen. Flucht ist stressig, und ich hätte sofort was machen müssen, um die finanziellen Mittel zu haben. Das wäre die Ultima Ratio gewesen.

Sie haben sich dagegen entschieden?

Ich habe mir diese Option immer offen gehalten.

Woran glauben Sie?

Nichts vergeht, nichts kommt von nichts, und nichts vergeht in nichts.

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