Legalisierte Abtreibungen in Mexiko: Ein Anfang ist gemacht

Der Bundesstaat Oaxaca in Mexiko hat Schwangerschaftsabbrüche legalisiert. Dennoch bleibt es schwer, einen zu bekommen.

Pro choice Demonstrantinnen vor em Parlamentsgebäude jubeln

Foto: Jorge Luis Plata/reuters

OAXACA taz | Mörder, Mörder, Mörder!“, schallt es aus der rechten Ecke des Plenarsaals. Und: „Ja zum Leben, Nein zur Abtreibung.“ Es sind Rufe der Verzweiflung – denn zunehmend sieht es schlechter aus für die Gruppe von Religiösen, die sich auf den Zuschauerbänken des Parlaments niedergelassen hat. Mit jeder abgegebenen Stimme zeigt der Großbildschirm im Saal deutlicher, dass sie keine Chance mehr haben.

Als dann ein Sprecher der Abgeordneten das Ergebnis verkündet, werden die Religiösen von der anderen Seite des Saals übertönt. Mehrere Dutzend Frauen recken die Fäuste, tanzen, schwenken ihre grünen Halstücher. Sie haben es geschafft: Die Mehrheit des Kongresses im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca hat beschlossen, dass Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche künftig unter allen Umständen straffrei bleiben.

„Das Gefühl in diesem Moment war einfach unbeschreiblich“, erinnert sich die Aktivistin Viri an jenen Tag im September 2019. Zunächst mussten die Feministinnen ihre Euphorie zurückhalten und reckten nur die Arme in die Höhe, ohne einen Ton von sich zu geben. „Wir wollten nicht, dass die Sitzung abgebrochen wird“, sagt Viri. Denn darauf hätten ihre Gegner abgezielt.

Seit Jahren hatten sich Frauen aus den verschiedensten feministischen Gruppen für das Recht eingesetzt, über ihren Körper selbst zu bestimmen. „Jetzt war der richtige Moment. Wer weiß, ob die Stimmung später gekippt wäre“, sagt auch Pilar Muriedas von der feministischen Organisation Consorcio. Sie hatte viele Stunden damit verbracht, die Abgeordneten zu überzeugen.

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Holzstangen gegen Angriffe

Immer wieder mussten sich die Feministinnen gegen katholische Oberhäupter, evangelikale Sekten und rechte Politikerinnen wehren. Bis zum letzten Moment machten die Gegner mobil. Wenige Tage vor der Entscheidung gingen in der Landeshauptstadt Oaxaca de Juárez 2.000 Menschen auf die Straße, angeführt vom örtlichen Erzbischof. In den Medien polterte der Gouverneur. Doch nichts, auch nicht die letzte Messe vor dem Parlament, die Statue der Jungfrau Guadalupe am Eingang des Kongresses oder das Transparent mit dem Bild eines Embryos konnte die Abgeordneten umstimmen. Oaxaca wurde nach Mexiko-Stadt zum zweiten von 32 Bundesstaaten, in denen Frauen nicht mehr wegen eines Schwangerschaftsabbruchs im Gefängnis landen können.

Viri, um die 30 Jahre alt, blau geschminkte Lippen, will nicht zu viel über sich in der Öffentlichkeit preisgeben, auch nicht ihren Nachnamen. Die Psychologin begleitet indigene Frauen, die ihre Schwangerschaft unterbrechen wollen, und das stößt unter Männern nicht nur auf Wohlwollen. Aber auch viele ihrer Mitstreiterinnen der feministischen Bewegung Marea Verde sind vorsichtig. Auf Demonstrationen vermummen sie sich, gegen Angriffe wappnen sie sich mit Holzstangen.

Schließlich sind brutale Angriffe gegen Frauen in Oaxaca alltäglich. Allein 2020 wurden 232 Frauen umgebracht. Die Aggressionen können sich auch gegen Aktivistinnen richten: Vergangenes Jahr legten Unbekannte vor dem Gebäude von Consorcio eine Tüte mit einem abgeschnittenen Tierkopf ab. Auf einem daneben liegenden Zettel hieß es: „Halt dich zurück, Hündin, der nächste ist deiner.“

Dennoch ist die Frauenbewegung stärker geworden. „Feministinnen beschäftigen sich in Oaxaca mit vielen Themen, aber der Kampf für die Entkriminalisierung der Abtreibung war am stärksten sichtbar“, sagt Viri. Motiviert durch ihre Genossinnen in Argentinien, wo Marea Verde den Anfang nahm, und durch große Frauendemonstrationen in Mexiko-Stadt sind auch Viri und ihre meist jungen Gefährtinnen auf die Straße gegangen. Dass bei den Demonstrationen der „Colectivas“ auch mal Scheiben von Regierungsgebäuden zu Bruch gingen und Kirchen beschädigt wurden, kam nicht bei allen gut an, die sich für eine Gesetzesreform stark machten.

Sie tragen das grüne Tuch

Viele haben aber Verständnis. „Diese Frauen sind nicht Feministinnen, weil sie Simone de Beau­voir gelesen haben, sondern weil sie die Gewalt alltäglich sehen oder erleben“, sagt Charlynne Curiel, die an der Autonomen Universität in Oaxaca Genderstudien lehrt. Die sexuellen Belästigungen, der Machismus, die Frauenmorde, das mache Frauen, die in Mexiko aufwüchsen, extrem wütend.

„Ich verstehe sie sehr gut“, sagt die Anthropologin und betont die große Bedeutung der jungen Bewegung für die Entscheidung im Parlament. „Diese Frauen hätten vielleicht nie mit einer Parlamentarierin verhandelt, aber sie gaben den Abgeordneten eine gewisse Rückendeckung.“ Durch sie habe eine Entstigmatisierung stattgefunden. „Tausende Frauen haben ihre Scham vor Schwangerschaftsabbrüchen abgelegt und tragen das grüne Tuch, das Symbol für eine legale und sichere Abtreibung, um den Hals, an ihren Rucksäcken, Taschen oder Handgelenken“, sagt Curiel.

Vor dem Gebäude legten Unbekannte einen abgeschnittenen Tierkopf ab. Auf einem Zettel hieß es: „Halt dich zurück, Hündin, der nächste ist deiner“

Doch die Reform wäre nicht zustande gekommen, wenn sich niemand um die politische Ebene gekümmert hätte, sagt die 65-jährige Feministin Pilar Muriedas, die schon mehr als ihr halbes Leben gegen die Kriminalisierung der Abtreibung kämpft. „Entweder du hast dort Verbündete oder du schaffst es nicht.“ Auch ihr hat die argentinische Frauenbewegung viel Kraft gegeben.

Chance für ein Exempel

Vor allem aber sei die politische Konstellation günstig gewesen: Mit dem Präsidenten Andrés Manuel López Obrador und seiner Partei Morena waren 2018 viele Feministinnen an politische Posten gekommen und übten Einfluss auf ihre männlichen Mitstreiter aus. Sie wollten endlich damit Schluss machen, dass Abtreibungen außerhalb der Hauptstadt nur erlaubt sind, wenn eine Schwangerschaft durch Vergewaltigung verursacht wurde oder das Leben der Schwangeren in Gefahr ist.

„In Oaxaca, wo Morena im Kongress die Mehrheit stellen, bestand die Chance, ein Exempel zu statuieren“, sagt Muriedas. Das wollten die Feministinnen nutzen. „Die Rückendeckung aus Mexiko-Stadt war eine große Hilfe, um die Abgeordneten zu überzeugen.“

Und so sprachen die Consorcio-Frauen und andere mit jeder und jedem einzelnen. Sie erinnerten sie daran, dass Oaxaca die Region mit der höchsten Müttersterblichkeit ist und luden die Organisation „Katholikinnen für das Recht zu entscheiden“ ein, um Überzeugungsarbeit zu leisten. „Das war wichtig, schließlich müssen sich die Abgeordneten vor ihrer religiösen Wählerschaft rechtfertigen“, sagt Muriedas.

Ablehnung aus moralischen Gründen

Der Präsident selbst war jedoch keine große Hilfe. López Obrador führt selbst einen religiösen Diskurs und propagiert ein Familienleben, in dem Frauen der Platz am Herd zugedacht ist. „Er ignoriert die immense Müttersterblichkeit, Gewalt in der Ehe und die Tatsache, dass Frauen zur Prostitution gezwungen werden“, kritisiert die Wissenschaftlerin Curiel. „Es scheint, als habe er wenig Ahnung von den Gründen, aus denen Frauen abtreiben.“

Mehr noch besorgt die Feministinnen, dass bislang wenig für die Umsetzung des neuen Gesetzes getan wird. Nur sehr wenige Frauen konnten problemlos abtreiben. „Wir sind noch nicht weit vorangekommen, unter anderem, weil sich der Gouverneur querstellt“, bedauert Muriedas. Krankenhäuser, Gesundheitszentren und das medizinische Personal seien nicht vorbereitet.

„Viele Ärztinnen und Ärzte in den Hospitälern lehnen es aus moralischen oder religiösen Gründen einfach ab, eine Abtreibung vorzunehmen,“ erzählt Viri. Da sie Indigene begleitet, die ihre Schwangerschaft unterbrechen wollen, erlebt die Psychologin ganz direkt, mit welchen Problemen Frauen in ländlichen Regionen weiterhin zu kämpfen haben. „In der Stadt gehst du in die Apotheke und kaufst das nötige Medikament. In den Dörfern gibt es das einfach nicht“, sagt sie. „Und wenn sich die Frauen an die Gesundheitsstation wenden, weiß gleich das ganze Dorf, was los ist.“ Manchmal müssten sie Schwangere sogar aus Gemeinden herausholen, weil Männer die Entscheidung für eine Abtreibung nicht akzeptieren.

Auch wenn ein großer Schritt getan ist, stehen die Feministinnen noch am Anfang. Noch immer seien viele Barrieren zu überwinden, sagt Viri und resümiert: „Wir haben jetzt zwar eine gesetzliche Regelung. Aber es fehlt eine soziale Entkriminalisierung.“

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Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe zum feministischen Kampftag am 8. März 2024, in der wir uns mit den Themen Schönheit und Selbstbestimmung beschäftigen. Weitere Texte finden Sie hier in unserem Schwerpunkt Feministischer Kapmpftag.

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