Leipzig Dok-Filmfestival: Dies ist noch Delacroix

Stasi, Ukraine und Dominoweltmeisterschaften: Das diesjährige Dok-Filmfestival Leipzig war toll, erschöpfend und verstörend zugleich.

Filmemacherin Elwira Niewiera wurde gemeinsam mit Piotr Rosolowski für den Film „Domino Effekt“ ausgezeichnet. Bild: DOK Leipzig 2014

Das Leben als freier Autor ist schön. Eben noch in Hamburg, bei der Verleihung des Ben-Witter-Preises an Helmut Höge, schwuppdiwupp, schon bin ich in Leipzig auf dem 57. Dok-Filmfestival und schaue mir den neuen Film „Striche ziehen“ des Berliner Regisseurs Gerd Kroske an und bin ganz erstaunt, einen meiner Fußballkumpels im Film zu sehen.

Er gehörte zu den fünf Leuten aus der Weimarer Undergroundszene, die, von der Stasi bedrängt, nach Westberlin ausreisten. Sie starteten 1986 die Kunstaktion „Der weiße Strich“, bei der sie die gesamte Mauer auf der Westseite mit einem weißen Strich bemalen wollten. Leider kamen Grenzsoldaten durch eine versteckte Tür in der Mauer und nahmen einen der Beteiligten fest. 2010 kommt heraus, dass es im Freundeskreis einen Stasi-IM gab. Mit viel Super-8-Archivmaterial erinnert Kroske an die Weimarer Undergroundszene, die ähnlich war wie im Westen.

Es geht um Verrat und Verräter. Und dass alles nicht so einfach ist. Als die Kamera, auf Versöhnung hoffend, die Aussprache zwischen zwei Brüdern beobachtet – der eine war im Knast, der andere IM (aber auch im Knast) –, freut man sich, dass sie nicht stattfindet.

Zehn Jahre wurde an der Untertunnelung des Leipziger Marktplatzes gearbeitet, nun ist alles fertig, wie ich sehe. Der Innenstadtbereich wirkt so noch cleaner, also fertiger als zuvor. Auf einem riesigen beleuchteten Plakat steht „Revolution ohne Gewalt – so geht sächsisch“. Der Spruch hat etwas latent Aggressives.

Das Verstehen erschweren

Wieder im Kino: Zwei Filme beschäftigen sich mit dem Maidan und der gewalttätigen Revolution in der Ukraine. Sergei Loznizas gleichnamiger Film beeindruckt dabei vor allem durch eine fast durchgehend eingesetzte statische Kamera und lange, unkommentierte Einstellungen. In der von der Bühne gefilmten Eingangsszene sieht man etwa tausend Münder die ukrainische Nationalhymne singen. Das Pathos ist groß. Im Lauf der Zeit werden die Sprechchöre chauvinistischer, das Geschehen gewalttätig. Eine Polizeieinheit steht unbewegt und wird quälend lange von Demonstranten mit Molotowcocktails und Steinen beworfen.

Nur ab und an gibt es zivile Bilder von den Volksküchen. Die offenen Särge der Erschossenen werden durch die Menge getragen. Ein Priester sagt „Ich bitte um eine Gedenkminute“. Die Menge ruft stattdessen „Ruhm den Helden“ und „Helden sterben nie …“

Lozniza hat täglich 14 Stunden am Maidan gefilmt, erzählt er bei einem Podiumsgespräch. Die Aufgabe des Filmemachers sei es, das Verstehen zu erschweren, insinuiert er. Die Moderatorin fühlt sich an Hieronymus Bosch erinnert. – „Die nächste Revolution wird Sie an Bosch erinnern; dies ist noch Delacroix.“

Lozniza glaubt nicht, dass die Regierung den Befehl dazu gegeben hat, die zunächst friedlichen Studentenproteste Ende November durch Spezialeinheiten der Berkut auseinanderzutreiben. „Man muss ja nicht schlau sein, um zu wissen, was passiert, wenn Studenten in Kiew zusammengeschlagen werden.“ Der Einsatz führte bekanntlich dazu, dass die abflauenden Proteste Massencharakter annahmen. „Aber wer hat dann wohl diesen Befehl gegeben?“, stellt Lozniza die Frage rhetorisch in den Raum.

„Nach der Revolution beginnt der Krieg“, sagt Lozniza weiter. „Das so zu sehen, finde ich ungerecht gegenüber den Jüngeren, die überall auf der Welt rebellieren“, empört sich dagegen eine Berliner Friedensfrau.

Der zweite Maidanfilm, „All Things Ablaze“ (Ukraine) von Oleksandr Techynski, Aleksey Solodunov und Dmitry Stoykov, ist noch härter. Die drei jungen Regisseure, die zuvor als Fotografen, unter anderem für die FAZ, gearbeitet hatten, sind äußerst nah am Geschehen. Zivile Szenen gibt es kaum. Die Gewalt geht vor allem von Demonstranten (oder Provokateuren) aus. Die beeindruckendste Szene, vielleicht des gesamten Filmfestivals, ist eine sehr lange, quälende Sequenz, in der Demonstranten besinnungslos mit Hämmern auf eine umgekippte Leninstatue einschlagen und ganz begeistert sind, als sie die Statue umgedreht haben und so auch das Gesicht Lenins zertrümmern können.

Siegerfotos werden tausendfach gemacht. Ein vielleicht 50-jähriger Mann mit einer schönen schwarzen Fellmütze und den Gesichtszügen eines Intellektuellen – die Figur des liberalen Humanisten Stepan Trofimowitsch aus Dostojewskis „Dämonen“ im Grunde genommen – umarmt die Statue, will sie beschützen, sagt immer wieder: „Das ist Barbarei … Leute, ihr habt doch eine friedliche Versammlung.“ Schließlich wird er weggeführt.

Unpatriotisch, verstörend

Der Film ist komplett unpatriotisch und verstörend. Die Filmemacher sagen im Gespräch, sie hätten ständig das Gefühl gehabt „something strange is happening“. Ob sich der Aufruhr gelohnt habe? – „100 dead people lying on the street – I don’t support that.“ Man ist ziemlich erledigt nach solchen Filmen (es gab auch einen krassen über niederländische Dschihadisten) und sehr dankbar, wenn man dann Filme sieht, die gut ausgehen.

Den wunderbaren „Domino Effekt“ von Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski zum Beispiel, der von der Dominoweltmeisterschaft in Abchasien erzählt und von der Liebesgeschichte zwischen dem Sportminister der halbautonomen Zwergrepublik und einer Moskauer Sängerin. Als bester deutscher Film wurde „Domino Effekt“ mit einer Goldenen Taube ausgezeichnet.

Die beiden ebenfalls ausgezeichneten Filme „Toto and his sisters“ (Rumänien) und „Spartacus & Cassandra“ (Frankreich), erzählen auf unterschiedliche Art von Romakindern, denen es gelingt, aus unerträglichen Verhältnissen auszubrechen. Der schöne indonesische Film „Jalanan“ von Daniel Ziv, in dem es um Musiker in Djakarta geht, die sich durch teils bob-dylaneske Auftritte in Bussen nur so knapp über Wasser halten.

Wie jedes Jahr gab es auch in diesem einen neuen Zuschauerrekord (42.000 Besucher). Und wie immer ist man nach der sehr, sehr guten Dok-Filmwoche am Ende etwas erschöpft.

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