Leipziger Dokumentarfilmfestival: Nische mit Flair

Das DOK Leipzig feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag. Zu DDR-Zeiten versuchte das SED-Regime, das Filmfestival ideologisch zu vereinnahmen.

Fassade des Petershof-Gebäudes

Im Petershof-Gebäude in der Leipziger Innenstadt fand zu DDR-Zeiten die Dokumentarfilmwoche statt Foto: Frank Vincentz

Als Deutschland 1961 durch den Eisernen Vorhang geteilt wird, ist den meisten DDR-Bürgern damit ein Großteil der Welt verschlossen. Doch einmal im Jahr öffnet sich im Kino Capitol in der Leipziger Innenstadt ein Fenster zur Welt, durch das sie schauen können: die Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche. Als einziges internationales DDR-Filmfestival besitzt es eine Ausstrahlungskraft weit über die Staatsgrenzen hinaus. Namhafte Regisseure und neue Filme verwandeln Leipzigs Zentrum für eine Woche in einen der wichtigsten Treffpunkte für die internationale Dokumentarfilmszene.

Die Jahre 1961 bis 1964 gelten als die „Goldenen Jahre“ des Festivals. „Nach dem Mauerbau war es der SED wichtig, mit einem internationalen Festival eine vermeintliche Weltoffenheit zu demonstrieren und um Anerkennung zu ringen“, sagt Andreas Kötzing, der zur Festivalgeschichte in der DDR forscht. Filmemacher aus den USA, Frankreich und Großbritannien kommen und diskutieren offen über ihre Filme – und damit zwangsläufig auch über alternative Weltbilder.

Doch schon damals geht das einigen SED-Funktionären zu weit. Hinter den Kulissen tobt der Konflikt über die weitere politische Ausrichtung des Festivals: „Die Dogmatiker innerhalb der SED wollten eine weitere Liberalisierung des Festivals verhindern“, sagt Kötzing. Er erkennt um das Jahr 1965 eine starke Zäsur, in dem die Festivalleitung ausgetauscht und freie Diskussionsrunden gestrichen werden. Fortan will die SED nur noch Filme sehen, die die „Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung demonstrieren“ und die „Unmenschlichkeit der imperialistischen Aggressoren“ entlarven.

Im gleichen Jahr kommt Wilhelm Roth als Journalist das erste Mal zur Dokumentarfilmwoche: „Man wurde offiziell eingeladen, anders kam man nicht zum Festival“, erinnert er sich. Als freier Autor für die Süddeutsche Zeitung und den Evangelischen Pressedienst Film schreibt er bis zum Mauerfall über das Event. Schon die Anreise nach Leipzig ist für ihn ein kleines Abenteuer: „Als Westjournalist wurde man mit seinem Passierschein genau kontrolliert, denn zu einer offiziellen Kulturveranstaltung in der DDR zu fahren galt damals als verdächtig.“

Westliche Journalisten werden in repräsentativen Hotels wie dem heute leer stehenden „Astoria“ untergebracht. Roth kommt sich oft wie „ein Gast auf einer Insel mit Rundumversorgung“ vor, die mit der Realität vieler DDR-Bürger nur wenig zu tun hat.

In der Spätvorführung „versteckt“

Er erinnert sich an die gute Stimmung und besondere Atmosphäre auf dem Festivalgelände in dem mehrstöckigen Gebäude des Petershofs. Filmemacher, Journalisten und Besucher diskutieren eifrig über die gezeigten Dokumentarfilme, es entwickeln sich über die Jahre Freundschaften. In einer Zeit mit sehr eingeschränkten Reisemöglichkeiten ist das Leipziger Festival eine der wenigen Möglichkeiten, sich mit Gleichgesinnten hinter der Mauer auszutauschen. Gleichzeitig bemerkt Roth, dass hinter der weltoffenen Kulisse etwas nicht stimmt: „Die Dokumentarfilmwoche hatte ein Doppelgesicht. Die SED versuchte den Spagat zwischen Propagandashow und internationalem Festival.“

Die ideologischen Vorgaben sind eng. Bei „Problemfällen“ kann es sogar vorkommen, dass sich die Kulturabteilung des SED-Zentralkomitees direkt einschaltet. Filme, die prinzipielle Kritik am Sozialismus üben, werden so ausnahmslos zensiert, sagt Historiker Kötzing. Trotzdem schaffen es immer wieder Produktionen mit kritischem Potenzial in das Programm. Das liegt an einzelnen Vertretern der Auswahlkommission, die die Grenzen dessen, was gezeigt werden kann, so weit wie möglich ausreizen.

Immer wieder schaffen

es Filme mit kritischem

Potenzial ins Programm

Zudem bietet das Festival verschiedene Nischen, in denen man kritische Filme „verstecken“ kann, etwa in einer separaten Spätvorführung – in der Hoffnung, dass dort kein SED-Funktionär mit drinsitzt. Und die sogenannten Trade-Shows in Filmkabinen, die westliche Besucher mieten können, um darin mitgebrachte Filme zu zeigen – platzen regelmäßig aus allen Nähten.

Die SED habe diese Grauzonen bewusst zugelassen, sagt Kötzing. „Sie dienten als Feigenblatt, um Kritik abzuwehren, dass es in der DDR keine Meinungsfreiheit gebe. Der Wirkungskreis der Kabinen, die gerade mal 20 Mann fassten, war eher klein im Vergleich zu den offiziellen Vorführungen im großen Capitol-Kinosaal mit seinen mehr als 1.000 Plätzen.“

Wird offiziell totgeschwiegen: der „Fall“ Biermann

Ab Ende der 1960er Jahre nimmt der Einfluss der Staatssicherheit spürbar zu. Neben „inoffiziellen Mitarbeitern“ hat sie auf dem Festivalgelände sogar ein eigenes Büro. Hotelzimmer und Telefone von westlichen Festivalgästen werden abgehört – so auch der Apparat von Wilhelm Roth. Allerdings mit bescheidenem Erfolg: Es werden zwar viele Informationen gesammelt, doch dem Geheimdienst gelingt es nicht ein einziges Mal, Besucher aus dem Westen als Spitzel anzuheuern.

Auch Wilhelm Roth liest später in seiner Stasiakte, dass die Geheimpolizei versucht hat, ihn anzuwerben. Ein Stasimitarbeiter stellt sich ihm im Festivalpressebüro als Mitarbeiter der Stadt Leipzig vor und bietet an, ihn zu Opernpremieren in Leipzig einzuladen, damit er darüber in der Süddeutschen Zeitung schreibt. „Ich habe darauf nicht reagiert, weil ich merkte, dass an dem irgendetwas nicht stimmt. Aus meiner Akte erfuhr ich dann, dass er sozusagen mein Führungsoffizier war.“

Im Rahmen der „Zukunftswerkstatt“ der taz erscheint jeden Freitag statt der Neuland-Seite eine eigene Seite für Leipzig, die taz.leipzig: geplant, produziert und geschrieben von jungen Journalist*innen vor Ort.

Sie haben Anregungen, Kritik oder Wünsche an die Zukunftswerkstatt der taz? Schreiben Sie an: neuland@taz.de. Das Team der taz.leipzig erreichen sie unter leipzig@taz.de

Auf dem Festival stehen in den 70er Jahren nicht nur Dokumentarfilme im Fokus, sondern immer wieder öffentliche Diskussionen über den Zustand der DDR. Offiziell totgeschwiegen wird der Fall Wolf Biermann 1976: Der Liedermacher ist eine Woche vor Festivalbeginn ausgebürgert worden, Roth schreibt in der Süddeutschen Zeitung daraufhin von einem „trügerischen Frieden“.

Trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Verhaftung mehrerer friedlich demonstrierender Jugendlicher vor dem Capitol im Jahr 1983. Mit Kerzen in der Hand halten sie eine Friedenskundgebung ab, passend zum offiziellen Festivalmotto „Filme der Welt – Für den Frieden der Welt“. Nach wenigen Minuten verhaften Stasileute und Volkspolizisten die Jugendlichen – die Festivalleitung entzieht sich einer öffentlichen Diskussion, westliche Besucher sind empört.

Vom Publikum ausgelacht

Nach diesen ersten Vorboten ist die politische Erosion der DDR ab Mitte der 80er Jahre verstärkt auf der Dokumentarfilmwoche zu spüren. Im Perestroikajahr 1987 arbeitet Norbert Wehrstedt als Journalist für die Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten. „Plötzlich kamen aus der Sowjetunion Filme, die sich kritisch mit der Gesellschaft beschäftigten“, erinnert er sich. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, Alkoholismus und eine desillusionierte Bevölkerung im Sozialismus werden offen thematisiert. Das Publikum ist begeistert, das SED-Zentralkomitee wegen der „ideologischen Entgleisungen“ aus der Sowjetunion entsetzt.

An die eisige Atmosphäre im Folgejahr 1988 erinnert sich Wehrstedt noch gut. Diesmal werden die Filme aus der So­wjet­union von höchster Stelle separat geprüft – und zensiert. Der politische Umbruch lässt sich dadurch nicht aufhalten: Auf Weisung der SED wird eine Reportage des DDR-Fernsehens über den ersten DDR-eigenen 1-Megabit-Chip mit einem Preis geehrt.

Dabei hinkt die Technik im internationalen Vergleich um mehrere Jahre hinterher. „Das Publikum durchschaute das verlogene Schauspiel und lachte die Preisträger aus“, erzählt Wehrstedt, der im Anschluss über das Gelächter berichtet und ein Disziplinarverfahren wegen „politischer Gefährdung“ seiner eigenen Zeitung bekommt.

Das letzte Dokumentarfilmfestival in der DDR findet kurz nach dem Mauerfall statt und ist so nahe an den gesellschaftlichen Ereignissen dran wie nie zuvor: Das alte Festivalkomitee tritt zurück und Filme wie „Aufbruch 89 – Dresden, 10 Tage im Oktober“ dokumentieren die Wendezeit schonungslos. Allerdings fällt mit dem Zusammenbruch des SED-Regimes auch der Geldgeber weg, das Festival entgeht nur knapp seiner Abwicklung – und findet 1990 bereits mit neuem Förderer statt: der Bundesrepublik Deutschland.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.