Lesung aus Einar Schleefs Tagebüchern: Kunst ist Verrat

Nicht Erinnertes war für Einar Schleef ein toter Zeitraum. Das Berliner Gorki-Theater erinnert mit einer monumentalen Lesung aus Schleefs Tagebüchern an den Regisseur.

Meister der Erinnerung: Einar Schleef bei einer Chorprobe im Jahr 2000. Bild: imago

Erinnerung ist Arbeit. Für Einar Schleef war dies ein täglicher Auftrag, seine Tagebücher lieferten dafür das Rohmaterial und waren der Ort der Bearbeitung zugleich.

1992 stellte Einar Schleef im Rathaus Schöneberg in Berlin aus. Er hatte den Fußboden der großen Ausstellungshalle in eine gigantische Skizze verwandelt, die Straßen seines Heimatdorfs Sangershausen aufgezeichnet und alles mit Verweisen auf Motive seiner Arbeit beschriftet. Er saß darin barfuß, wie ein großer Junge, als einige wenige Journalisten zum Pressetermin kamen. Die Farbe war kaum getrocknet, man musste auf Socken laufen.

Er erzählte von der Goldenen Aue und den Mythen, die auf der Landschaft seiner Heimat in Thüringen lasteten wie die Abraumhalden des Bergbaus. Daran erinnere ich mich. Ob auch über seine Zeit als Regisseur in Frankfurt geredet wurde, die gerade zurücklag, von öffentlichen Anfeindungen und Diskussionen begleitet, daran erinnere ich mich nicht.

Was man erinnert und was nicht, Einar Schleef hat damit oft gehadert. Mit einer fast achtstündigen einmaligen Lesung aus seinen Tagebüchern verbeugte sich am Samstag das Berliner Gorki-Theater vor dem 2001 verstorbenen Regisseur, Autor, Bühnenbildner, Maler und Fotograf.

Unerinnerbare Monate im Krankenhaus

Nicht Erinnertes, das war für Schleef ein toter Zeitraum. Sein Jahr 1960 war voll davon, sechs Jugendliche schreiben die leeren Zeiträume an eine Wandtafel auf der Bühne. Sie gehören dem Jugendclub „Die Aktionisten“ an und haben zusammen mit dem Regieassistenten Daniel Wild die Patenschaft für das Jahr 1960 übernommen, in dem Einar Schleef als 16-Jähriger aus einem fahrenden Zug gefallen war und danach nicht erinnerbare Monate im Krankenhaus verbrachte.

Als seine Erinnerung wieder einsetzt, findet er sich in einem Zimmer voller Schwerversehrter wieder. Wer nicht als Folge von Amputationen starb, brachte sich später um. Die Jugendlichen erzählen es wie einen Gruselschocker – man ahnt die Panik unter dem Witz.

1953 setzen die Tagebücher ein, oft auch in späteren Zeiten überarbeitet und neu befragt. Die Lesung, in 30 Zeitabschnitte gegliedert, war eine kollektive Hommage, in die mehrere Generationen einbezogen waren. Das hat etwas von einem überraschend versöhnlichen Blick auf einen Künstler, der gerade auch für seine mangelnde Kompromissfähigkeit berühmt und berüchtigt war.

Gemessen am Theater des Regisseurs Schleef war das Format der szenischen Lesungen wahrscheinlich eine Verkleinerung. Der einfache und dennoch anrührende Zugang aber, der so zu Schleef geschaffen wurde, macht solche Nachteile wett. Denn die Empathie der Tagebuch-Interpreten galt vor allem dem Menschen Schleef, auch gerade dort, wo der mit seinen Schwächen ins Gericht ging.

Spuren der Geschichte

Nach Spuren der Geschichte im Biografischen zu suchen, die Brüche zwischen Deutschland Ost und West auch Jahrzehnte später noch in Kränkungen und Verletzungen aufzuspüren, das gehört für Armin Petras, Leiter des Gorki-Theaters, ebenso zu den ihn umtreibenden Fragestellungen wie für Einar Schleef. Petras hat die Jahre 1968/69 bearbeitet, als der junge Ostberliner Kunststudent Schleef von seiner Verliebtheit in Anne okkupiert war – Petras tanzt dies selbst ekstatisch, expressiv, verdruckst.

Dass Schleef währenddessen für die Kämpfenden in Prag, die man auf einer Filmleinwand sieht, keine große Teilnahme aufbrachte, zumindest dokumentiert sein Tagebuch dies nicht – das geißelt er selbst in späteren Kommentaren. Er, der als Künstler so sehr mit den Schieflagen der deutsche Geschichte, dem Leiden am Osten und am Westen, identifiziert wurde, schildert sich selbst als einen, der Entscheidendes immer wieder verpasst und verdrängt. „Kunst ist Verrat“, schließt Schleef daraus.

In eine Groteske übersetzt Sebastian Baumgarten diesen Konflikt. Um die Wette lesen zwei Schauspieler Schleefs Erzählung von einer Volkskammerwahl 1976, an der er teilnimmt, weil sein Visum für eine Reise nach Wien – von der er nicht nach Ostberlin zurückkommen wird – davon abhängt. Aus vielen Nebensächlichkeiten setzt sich dieser Tag zusammen, alles wird zur Verdrängung des letztlich doch vollzogenen Kompromisses. Wieder will er sich selbst nicht ins Gesicht sehen und tut es doch Seite für Seite seines Tagebuchs.

Der Schauspieler Michael Klammer kannte Einar Schleef nicht, als sein Theater zum Schleef-Marathon aufrief. Er drehte einen kurzen Film, wie er in sein Tiroler Heimatdorf fährt und Umfragen macht: Kennen Sie Einar Schleef? Die Ausbeute ist gering. Klammers Blick von außen tut dem Abend gut, relativiert er doch den Gestus der Überhöhung, der so einem Gedenktag immer innewohnt.

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