Letzte „NME“-Ausgabe erschienen: Keine bleichen Männer mehr

Nicht nur der Medienwandel ist Schuld am Ende des britischen „New Musical Express“. Das Blatt setzte zu lange auf eine homogene Popkulturszene.

Eine NME-Ausgabe wird von zwei ausgestreckten Händen gehalten - im Hintergrund eine Straßenszenerie

Die Musik der Kinder ist nicht die der Eltern – und deswegen lesen die Kinder auch andere Medien Foto: ap

Die erste Print-Ausgabe des wöchentlichen Musikmagazins New Musical Express (NME) erschien im Jahr 1952. Die letzte Ausgabe kam an diesem Freitag heraus. Auch Rock'n'Roll begann, ungefähr, im Jahr 1952. Sein Todeszeitpunkt lässt sich allerdings noch schwerer feststellen als seine Geburtsstunde. War Nirvana das letzte Aufbäumen? Oder die Retromanie der Strokes, Libertines et al.? Die Tatsache seiner gegenwärtigen Bedeutungslosigkeit lässt sich jedenfalls kaum leugnen. Die Musik der Kinder ist nicht die Musik der Eltern; auf dem Pausenhof und im Studentenwohnheim und in der Werkstatt läuft heute Hip Hop und elektronische Popmusik.

Der NME zieht nun also nach. Seit einigen Jahren schon ist das Magazin ein Gratis-Heftchen gewesen, dünn, in jeder Hinsicht. Es gibt nichts mehr zu berichten. Die Musiker, die seinen Redakteuren gefallen haben, die von ihnen berühmt gemacht wurden, waren meist weiß und männlich und heterosexuell und spielten Gitarre, etwas weniger Interessantes kann man sich zurzeit nicht vorstellen.

Sicherlich lässt sich der Niedergang der traditionsreichen Publikation auch als Symptom eines allgemeinen medialen Strukturwandels lesen. Der kulturelle Wandel jedoch, von analogem Klartext zu digitalem Eklektizismus, vom Stammestum zu einer Auflösung subkultureller Identitäten, von mystischen Ikonen zu Social-Media-Figuren, von London und New York zu Chicago und Atlanta, ist ein nicht unwesentlicher Faktor.

Es bleibt nur die Musealisierung, das Betrachten des selbst geschaffenen Kanons, das Eingeständnis, dass es nun nicht mehr nach vorne geht, sondern nur noch zurück: Die ab jetzt regelmäßig erscheinende „NME-Gold“-Reihe wird sich jede Ausgabe ausführlich einer legendären NME-Band widmen.

Und von denen gibt es ja einige. Die professionalisierte Musikpresse war von Beginn an wichtiger Teil der britischen Pop-Industrie. Trends wurden produziert und vertrieben, und zwar im wöchentlichen Takt, vom NME und dem Konkurrenzblatt Melody Maker, und sie breiteten sich innerhalb von Stunden im ganzen Land aus. Die Insel ist klein und die Informationswege wurden immer kürzer; von Aberdeen bis Brighton entstand eine robuste Teenager-Kultur, der Teenager überhaupt entstand als kaufkräftiger Teil der ökonomischen Gleichung.

Invasion der Briten

Das Erfolgsmodell des Pop, das in den Beatles und den Rolling Stones kulminierte, war dann so durchschlagend, dass es über den Atlantik schwappte, Nordamerika einnahm, und man sich dort nur mit Militär-Semantik zu helfen wusste und das Phänomen als British Invasion benannte.

Später gehörte der NME zu den ersten, die sich mit den Sex Pistols und der Punkwelle befassten. Der damalige Chefredakteur und Sex-Pistols-Fan (einer der wenigen in der Redaktion) Neil Spencer bog dann auch eine Leser-Umfrage so zurecht, dass die junge Punkband als größte Hoffnung für das Jahr 1977 galt – und nicht die Jazz-Fusion-Gruppe Brand X von Phil Collins.

Den größten unmittelbaren Einfluss auf die Popkultur aber hatte der NME wohl in den Achtzigern mit seinen legendären Mixtapes wie dem C81, das schottische Bands wie Orange Juice und Aztec Camera populär machte und dem Indie-Pop klar klirrende, offene E-Gitarren-Akkorde als wesentliches Vokabular zur Verfügung stellte. Hört man zum Beispiel „Blue Boy“ von Orange Juice, im Januar 1981 dem NME beigelegt, dann ist das die Wurzel des Stammbaums, aus dem später die Smiths und Belle and Sebastian, und viel später Mac DeMarco, hervorgingen.

In den neunziger Jahren konnte der NME es sich dank Grunge, Britpop und Schlagzeilen-Maschinen wie Kurt Cobain und den Gallagher-Brüdern leisten, schwarze Musik aus den USA zu ignorieren. Auch in den frühen Nullerjahren hielt das Magazin es wegen des sogenannten Post-Punk-Revivals noch durch, an den alten Männlichkeitsentwürfen festzuhalten.

Fragmentierter Pop

Die Ära der bleichen, rasierten Männer aber, die in dreckigen Proberäumen übten und sich betrunken von Pub-Bühnen auf die Hände des Publikums legten, ist heute vorbei. Die Band Palma Violets, bei der die britische Indie-Industrie vor einigen Jahren noch einmal alle Register zog, um einen Hype herzustellen, wollte niemand hören.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Popmusik ist heute fragmentierter und vielschichtiger, internationaler, was nicht heißt, dass es keine regionalen Szenen mehr gibt. Diese sind nur nicht immer leicht zu begreifen. Eine breite Trap-Rezeption zum Beispiel hat gerade erst begonnen (nicht im NME), obwohl es das Genre und seine Musiker seit über zehn Jahren gibt.

Als sie die Nachricht von der Einstellung des gedruckten NME hörte, schrieb die britische Musikjournalistin Laura Snapes, die beim NME begonnen hat und mittlerweile für die Online-Publikation Pitchfork arbeitet, bei Twitter: „Natürlich war der NME in den letzten Jahren nur ein Schatten seiner selbst. Trotzdem sind das sehr traurige Neuigkeiten. Ein riesiger Teil britischer Kultur ist gerade zu einem Ende gekommen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.