Literaturfestival in Sardinien: Das Starsystem ist abgeschafft

So hat man sich Italien immer erträumt: herzlich, kulturinteressiert, gastfreundlich. Das Literaturfestival im sardinischen Dorf Gavoi überzeugt durch seine familäre Atmosphäre.

Auch junge Talente, die mit einem Erstlingswerk reüssiert haben, sind am Start. Bild: Jenzig71/photocase.com

Kaum sind die beiden Redner auf dem Podium fertig, da kommt die Diskussion in Fahrt. Antonio Pascale, durch seine Auftritte im italienischen Fernsehen bekannter Intellektueller, nimmt den deutschen Soziologen Meinhard Miegel aufs Korn. Seine Vorschläge zum Ausstieg aus dem Wachstum seien recht besehen eine Unverschämtheit, der Soziologe wolle doch bloß die ärmeren Länder auf ewig in Armut halten.

Miegel antwortet gelassen, und 1.300 Menschen auf der Piazza hören konzentriert zu. Szenen von einem Literaturfestival, nichts Ungewöhnliches eigentlich, wenn da nicht der Ort wäre, an dem sich der Disput zuträgt: Gavoi.

Völlig aus der Welt ist das kleine sardische Dorf mit gerade einmal 2.800 Einwohnern. Es liegt im Inselinneren, in der vor wenigen Jahren noch einigermaßen berüchtigten Barbagia, dem „Barbarenland“, um das auch die antiken Römer nach der Eroberung Sardiniens immer einen weiten Bogen schlugen.

Stein- und Korkeichenwälder machen die Gegend für sardische Verhältnisse ungewöhnlich grün, doch das Städtchen Orgosolo – noch vor zwei, drei Jahrzehnten Zentrum des sardischen Banditentums – liegt gleich um die Ecke, und so manches Entführungsopfer wurde in den Siebziger- und Achtzigerjahren ins nahe Bergmassiv des Supramonte verschleppt.

Debatte über die „Felicità“

Trotz seines schönen, in hellem Granit gemauerten Dorfkerns verirren sich selten Gäste nach Gavoi – außer in den ersten Julitagen, wenn hier eins der ungewöhnlichsten Literaturfestivals Italiens steigt. Es ist kurz vor zwölf Uhr mittags, die nächste Debatte steht an, über die „Felicità“, das Glück, und die Auswärtigen brauchen keinen Plan, um den Platz zu finden.

Sie müssen einfach den Klängen der Launeddas folgen, der uralten sardischen Flöten, deren Melodien von weither herüberwehen. Junge sardische Musiker leiten jede der Veranstaltungen der „Isola dei libri“, der „Insel der Bücher“ – so der offizielle Festivaltitel – ein, doch ansonsten geht es hier nicht um Regionalfolklore, um Heimatliteratur oder gar kitschige Beschwörung des Sardentums.

Schriftsteller aus ganz Italien, aus Polen, Rumänien, Österreich diskutieren ihre Werke. Bestsellerstars wie die US-amerikanische Tess Gerritsen sind genauso da wie junge Talente, die mit einem Erstlingswerk reüssiert haben. Und dank des Engagements des Goethe-Instituts Italien ist gleich eine ganze Schar Deutscher gekommen: Meinhard Miegel, Büchnerpreisträger F. C. Delius, der Krimi-Autor Peter Probst.

„Ciao Peter“

Keiner aber muss sich sorgen, wie bekannt oder unbekannt er oder sie ist: Das Starsystem ist in Gavoi abgeschafft. In den Bars, am Schafskäsestand oder an den vielen langen Tischen entlang der Straßen, an denen die Festivalgäste mittags und abends tafeln: Wer immer auf einem Podium teilgenommen hat, darf sich darauf einstellen, von den Gavoiesern und den anderen Festivalgästen völlig unbefangen angesprochen und in ein Gespräch verwickelt zu werden.

Peter Probst, der auf Einladung des Festivals und des Goethe-Instituts einen Monat als Resident in Gavoi verbracht hat und hier seinen Krimi „Im Namen des Kreuzes“ – der sich um pädophile Priester dreht – vorstellt, bringt es auf den Punkt: „In meinem bayerischen Dorf hat mich in 22 Jahren nie jemand zu sich nach Hause eingeladen, hier dagegen war ich bei unheimlich vielen Leuten zu Gast.“

Während er das sagt, schallt ein „Ciao Peter“ über die Straße, von ein paar jungen Männern, die vor einem Geschäft stehen. Hinterher sieht man sie bei der nächsten Veranstaltung, genauso wie 80-jährige Mütterchen und alte Männer mit wettergegerbten Gesichtern.

Das ganze Dorf ist da, und wer nicht kann, ist dennoch dabei: „Ich hab Sie gestern gesehen – im Live-Stream“, sagt der Zeitschriftenhändler einem prominenten Journalisten und beginnt dann gleich eine Diskussion.

Ein selbstverständliches Fest

Keiner ist hier wichtiger als der andere, das ist die Botschaft, die die Gavoieser auf die denkbar liebenswürdigste Art ihren von weither angereisten intellektuellen Gästen geben. Und auch Michela Murgia und Marcello Fois, die beiden sardischen Erfolgsautoren, die hier als Seelen des Festivals wirken, sind mit allen im Dorf per Du.

„Vor ein paar Jahren war es eine Nachbarin, die mich drängte, nach Gavoi mitzukommen“, erzählt Susanne Höhn, Chefin der Goethe-Institute in Italien, „Lust hatte ich eigentlich nicht, ich erwartete mir nichts Besonderes – aber dann war ich überwältigt.“

Überwältigt zum Beispiel davon, wie das Festival ganz selbstverständlich zum Fest wird, spät abends, beim „Mirto mit dem Autor“. Da müssen die Schriftsteller auf die Bühne, einer nach dem anderen, und werden von Marcello Fois ins Verhör genommen.

Fehltritte, Peinlichkeiten, Tritte in Fettnäpfchen müssen sie beichten – und nur wer eine ordentliche Geschichte zu bieten hat, erhält dann als Lohn ein Glas Mirto, den sardischen Nationallikör. Am Ende aber, tief in der Nacht, heben tausende Menschen ihre Becher, trinken auf die, die ihre Geschichten zum Besten gegeben haben, auf Gavoi – und auf das nächste Festival.

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