Machtfülle des türkischen Präsidenten: Erdogans Mission

Mit seiner Paranoia-Politik verabschiedet sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vom Laizismus. Und keiner hält ihn auf.

Der neue Atatürk: Erdogan spricht zu den Massen. Bild: ap

„Möchtegern-Sultan“, „muslimischer Fundamentalist“, „Allah des Status quo“ – der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan polarisiert, und entsprechend vielfältig sind die Beleidigungen durch seine Gegner.

Seit er die politische Bühne betreten hat, ist er eine Reizfigur, vor allem für Liberale und Kemalisten. Diese sehen in Erdogans Einsatz für die Belange der Religiösen und seine offen gelebte Frömmigkeit zu Recht den Laizismus des Landes in ernster Gefahr.

Eine Fundgrube für Erdogans islamisch-sunnitische Logik bieten schon seine frühen Äußerungen: Noch in der Lokalpolitik aktiv, sagte er einmal, er habe am liebsten jeden Händedruck mit „fremden“ Frauen vermeiden wollen, weil er dies als unislamisch empfinde. Wenn eine Berührung mit dem anderen Geschlecht sich doch nicht vermeiden ließ, habe er im Stillen Gott um Verzeihung gebeten.

Damals bezeichnete er sich auch als „Diener der Scharia“ und schlug vor, Parlamentssitzungen durch das Rezitieren von Koransuren zu eröffnen. Erdogan gratulierte den Taliban zur „Gründung einer islamischen Republik“, und sagte Sätze wie: „Dass dem Volke die Souveränität ohne Wenn und Aber gehört, ist eine große Lüge, mit Sicherheit ist nur Allah der Souverän“.

Das Buch: Cigdem Akyol: „Generation Erdogan“. Verlag Kremayr & Scheriau, 208 Seiten, 22 Euro

Die Lesung im taz Café: 12. März, 19 Uhr, Rudi-Dutschke-Straße 23, Berlin, Eintritt frei

Geschlechtertrennung

Im Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul – das er von 1994 bis 1998 innehatte – verbot er den Alkoholausschank in städtischen Lokalen, kritisierte, Ballett sei sexuell erregend, und schlug Geschlechtertrennung in Schulen vor. Er hetzte gegen die „Versklavung der Türkei durch die Nato“ und befand, ein wahrer Muslim könne sich nicht zum verfassungsrechtlich verankerten Laizismus bekennen.

Später, als Ministerpräsident, bediente er seine religiösen Wähler weiterhin mit konservativen Äußerungen. Erdogan forderte getrennte Studentenwohnheime und befand immer wieder, dass Frauen in den privaten, familiären Bereich gehören. Als ein Parteimitglied unverschleierte Frauen als ein „Haus ohne Vorhänge“ bezeichnete, das man „mieten oder kaufen“ könne, kam kein distanzierendes Wort vom Vielredner Erdogan.

Doch wäre es billig, Erdogan nur wegen seiner frühen Aussagen als Gläubigen mit einer religiösen Agenda zu bezeichnen. Aber noch heute macht er es mit seiner berüchtigten Rhetorik seinen Gegnern einfach, ihn als Islamisten darzustellen.

Nach seinem Wahlsieg zum Präsidenten am 10. August letzten Jahres versprach er zwar eine „neue Türkei“, mit einer starken Demokratie, doch nur wenige Monate später schreitet die Islamisierung der säkularen Republik immer weiter voran.

Verpflichtender Koranunterricht

Ende November warf Erdogan dem Westen vor, Muslime ausbeuten zu wollen. „Sie scheinen vordergründig unsere Freunde zu sein, aber freuen sich über unseren Tod und über den Tod unserer Kinder“, sagte er. Und bei einer anderen Gelegenheit schimpfte er: „Ich wurde angegriffen, als ich fragte, warum Koranunterricht nicht genauso verpflichtend sein könne wie Physik.“

Dann kündigte er an, in Schulen werde künftig auch Türkisch aus der osmanischen Zeit unterrichtet werden, „damit die Jugend ihre Geschichte lernt“. Für Aufmerksamkeit sorgte das Staatsoberhaupt auch mit seiner These, muslimische Seefahrer hätten Amerika bereits Jahrhunderte vor Kolumbus entdeckt. Für Kemalisten ist diese gesellschaftliche Entwicklung eine enorme Provokation.

Besonders deutlich wird dies im Gespräch mit Ali Mehmet Celal Sengör. Man könnte ihn salopp als „Hardcore-Kemalisten“ bezeichnen, er verkörpert all das, wofür der Staatspräsident nicht steht. Sengör ist ein Kosmopolit, geboren 1955 in Istanbul, wuchs in einer reichen Familie auf, wegen seiner deutschen Tagesmutter spricht er fließend Deutsch.

Der Geologe studierte in New York, war unter anderem Gastwissenschaftler im britischen Oxford, seit 1992 ist er Professor an der Technischen Universität Istanbul. „Ich bin der angesehenste Wissenschaftler der Türkei“, sagt er sehr selbstbewusst, und es stimmt: Er ist der bekannteste Geologe seiner Heimat.

Der beleibte Mann mit grauem Haar und Bart sitzt barfuß im Jogginganzug in seiner riesigen Privatbibliothek im Keller seiner Istanbuler Villa, die mehr als 30.000 Bücher beherbergt, und kommentiert das unterirdische, dunkle Labyrinth mit den roten Samtvorhängen: „Hier ist es sicherer als der Führerbunker.“

Glauben und Politik

Sengör ist aber nicht nur als Forscher bekannt, er gehört auch zu den lautesten Atheisten der Türkei – und zu den schärfsten Kritikern des Systems Erdogan. „Ich bin Verteidiger der Menschheit, der Zivilisation“, sagt er aus tiefer Brust heraus. „In einer Zivilisation können viele Meinungen nebeneinander existieren, ohne dass sich die Menschen einander umbringen.

Es gibt offene, kritische Diskussionen, an denen sich alle beteiligen können. Das ist in der Türkei aber nicht möglich“, poltert er. Dann holt er kurz Luft, trinkt aus seiner Cola-Dose und sagt: „Die Türkei hat dasselbe Kulturniveau wie Afghanistan. Denn Glauben und Politik gehören nicht zusammen, das ist keine Demokratie“.

Verachtung gegenüber den religiösen Massen, die hinter Erdogan stehen, sieht er in seiner Haltung nicht – „ganz im Gegenteil, ich will die Menschen retten. Ein religiöser Mensch zu sein, das ist menschenfeindlich.“

Dann holt er aus, argumentiert mit historischen, blutigen Episoden, schmeckt seinen Worten nach, will wissen, wie diese wirken. „Religion geht nie vorwärts, sondern immer rückwärts. Glauben lässt keine Kritik zu und ist deswegen eine menschliche Sünde.“

Deswegen mache ihm der stramme islamische Glauben, den die Regierung vertrete, Angst. „Ich habe Furcht vor der Regierungspartei AKP, sie bedroht die Wissenschaft und die Zivilisation, die unter dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk entstanden ist.“

Korruptionsvorwürfe

Als ob diese Brachialkritik noch nicht ausreicht, legt er nach – und zeigt dabei die tiefen Gräben, die alte Eliten und AKP-Anhänger trennen: „Sie haben die Verfassung so oft verletzt, sie haben kein Recht mehr, zu regieren. Und sozial sind sie so viel niedriger als ich, ich kann diese Leute nicht ernst nehmen“

Sengörs Kritik brachte ihm schon reichlich Ärger ein: Als er 2008 in den Hochschulrat, dem obersten Organ des Hochschulsystems, gewählt werden sollte, hat sich die Regierung eingeschaltet und dies verhindert. „Der damalige Präsident Abdullah Gül, auf den die Europäer reinfallen, wollte mich nicht. Ich hätte als Mitglied des Hochschulrats zu viel Lärm machen können.“

Die hochschulpolitische Agenda des Geologen steht den AKP-Zielen, die Religiöse integriert und stärkt, diametral entgegen: Sengör würde gerne religiöse Symbole an der Universität verbieten lassen, sieht darin „politische Waffen“.

Frauen mit Kopftüchern sollen seiner Meinung nach erst gar nicht auf den Campus. „Wegen meiner Meinung wollte man mich zwar nicht in den Kerker sperren, man wollte mich nur verhindern. Aber ich habe keine Angst, nur diejenigen, die an Allah glauben, haben Angst.“

Trotz handfester Korruptionsvorwürfe, Aushebelung des Säkularismus, schwerer Auseinandersetzungen im islamisch-konservativen Lager und außenpolitischer Misserfolge gelang es der AKP bisher dennoch, die Wahlen zu gewinnen. Wie kann das sein?

„Die AKP ist wie eine Mafia, einige Menschen müssen sie aus Angst unterstützen, einige sind Mitläufer, manche sind an den Verbrechen beteiligt“, so Sengör.

Ein-Mann-Staat

Die Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres wird die AKP wieder gewinnen, nicht unwahrscheinlich, dass sie erneut über 50 Prozent der Stimmen bekommen wird. Und während Erdogan die Türkei in einen islamischen „Ein-Mann-Staat“ umbaut, verabschiedet sich die Regierung Schritt für Schritt von dem immer noch obligatorischen Laizismus.

Die Symbole der „alten“ Republik werden langsam von Erdogans Mischung aus Modernisierung und konservativer Frömmigkeit verdrängt. So steht beispielsweise auf dem Marktplatz des Istanbuler Stadtteils Kayasehir, anders als in türkischen Städten üblich, nicht die obligatorische Statue Atatürks. Stattdessen prangt dort eine Statue der staatlichen Baugesellschaft „Toki“ mit Dank an Erdogan – daneben eine Moschee und ein modernes Einkaufszentrum.

Nachdem während eines Erdbebens im osttürkischen Van eine Schule einstürzte, eröffnete Erdoan 2012 lächelnd eine neue Schule an der gleichen Stelle. Benannt wurde diese nicht, wie meistens üblich, nach Atatürk, sondern nach Erdogans verstorbener Mutter Tenzile.

Erdogan will die Republik zu ihrem 100. Geburtstag im Jahr 2023 führen, nicht auszuschließen, dass es sich dann auf den Lirascheinen und Münzen, auf denen Porträts des streng säkularen Atatürks abgebildet sind, auch Bilder des streng muslimischen Erdogan befinden.

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