Machtübernahme in Madagaskar: „Dies ist kein Putsch“
Madagaskars Militär hat die Macht ergriffen. Die Soldaten unter Oberst Randrianirina müssen vor allem die „Gen Z“ zufriedenstellen.

taz | Jetzt also Madagaskar. Nach Mali, Burkina Faso, Guinea, Tschad, Niger und Gabun hat nun innerhalb weniger Jahre das siebte ehemals von Frankreich kolonisierte afrikanische Land einen vom Militär bestimmten Machtwechsel erlebt. Oberst Michael Randrianirina stellte sich am Dienstag auf die Stufen des Präsidentenpalastes in Madagaskars Hauptstadt Antananarivo und verkündete seine Machtübernahme. Zum großen Jubel einer von jungen Menschen getragenen Protestbewegung, die seit Ende September massiv gegen den zivilen Präsidenten Andry Rajoelina auf die Straße gegangen war.
Die Protestbewegung formierte sich im September gegen immer häufigere Stromausfälle und wurde schnell größer. Sie nennt sich „Generation Z“ nach einer ähnlichen Jugendrevolte in Kenia vor einem Jahr und weiteren solchen Aufstandsbewegungen, die sich mittlerweile von Marokko bis Nepal bemerkbar machen. 22 Tote hat sie bereits zu beklagen. Dann stellte sich überraschend am Samstag 11. Oktober das von Randrianirina geführte CAPSAT (Armeekorps des administrativen und technischen Dienstpersonals), eine logistische Schlüsseleinheit der Armee, öffentlich auf ihre Seite. Sie erklärte, man werde keinen Schießbefehl ausführen. Die Staatsmacht war nackt.
Am Sonntag bestieg Präsident Rajoelina heimlich einen französischen Militärhubschrauber und ließ sich auf die französische Insel Réunion evakuieren, von wo aus es im Privatjet nach Dubai weiterging. Am Dienstag stellte das Verfassungsgericht auf Antrag des Parlaments die Vakanz des Präsidentenamtes fest und bat Oberst Randrianirina, zu übernehmen. Am Freitag legte er vor dem Verfassungsgericht den Amtseid als „Präsident der Neugründung der Republik Madagaskar“ ab.
Diese Bemühungen, die Form zu wahren, unterscheiden die Vorgänge auf Madagaskar von den Militärputschen in Westafrikas Sahelstaaten, bei denen frustrierte antifranzösische Offiziere die zivilen Politiker verhaften. „Dies ist kein Putsch“, stellte der neue starke Mann Madagaskars denn auch auf seiner ersten Pressekonferenz am Donnerstag klar. „Ein Putsch ist, wenn Soldaten mit Waffen in den Präsidentenpalast eindringen, wenn sie schießen, wenn Blut fließt.“ Er habe sich die Macht nicht „genommen“, sie wurde ihm „gegeben“, und ein Militärregime werde er nicht errichten.
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„Wir müssen das System ändern“
Madagaskars Umsturz unterscheidet sich von den anderen auch dadurch, dass er in Unterstützung einer zivilen Protestbewegung erfolgt. Gleich am Mittwoch versammelte sich eine große Menschenmenge auf dem zentralen „Platz des 13. Mai“ in der Hauptstadt und feierte. Mit Begeisterung sangen sie das viral gegangene Protestlied „Roraparaky“ über Madagaskars Alltagsmisere des Rapmusikers Thiera Kougar, der in einem Interview die „Revolution“ begrüßte. „Es war klar, dass es so enden musste“, sagte der 37-Jährige, der früher für Rajoelina Wahlkampf machte und sich dann wie so viele andere enttäuscht abwendete. „Das ist das Signal eines historischen Wandels“, rief auf der Kundgebung der Aktivist Tsivery Harisoa Mao Tse Toung: „Wir müssen das System ändern.“
Grund zum Wandel gibt es auf Madagaskar genug. Kaum ein Land auf der Welt ist so heruntergewirtschaftet. Das Prokopfeinkommen liegt heute rund 40 Prozent unter dem ohnehin bescheidenen Niveau bei der Unabhängigkeit 1960, die auf eine besonders brutale französische Kolonialherrschaft folgte. Madagaskar, seit 90 Millionen Jahren eine Insel und damit Heimat einer weltweit einzigartigen Tier- und Pflanzenwelt mit einer der längsten Tropenküsten voller Mangroven und Korallen, beutet seine natürlichen Ressourcen hemmungslos aus, während die Bevölkerung zu 90 Prozent in Armut lebt.
Eine mehrere Jahrzehnte währende sozialistische Militärdiktatur ab 1972 ließ die Wirtschaft kollabieren. Es folgten Instabilität und Raubtierkapitalismus bis heute. Jedes zweite madegassische Kind ist mangelernährt, nur eine Minderheit der Bevölkerung hat Strom und sauberes Wasser. Die unzumutbaren Lebensbedingungen in weiten Teilen des ländlichen Raums haben Landflucht und die Bildung eines perspektivlosen Slumproletariats in den Städten begünstigt, ein fruchtbarer Nährboden für Volksaufstände.
Nationaler Dialog über die Probleme des Landes gefordert
Der neue Militärherrscher Michael Randrianirina stammt aus Madagaskars südlichster und ärmster Provinz Androy. Sie ist Schauplatz brutal niedergeschlagener Revolten sowohl gegen die Kolonialherrschaft als auch später und inzwischen die Region des Landes mit den häufigsten Hungerkatastrophen. Er hat nicht nur im Militär Karriere gemacht: von 2016 bis 2018 war er Gouverneur von Androy und er ist Militärbischof in der Lutherischen Kirche Madagaskars. Die Insel wurde im 19. Jahrhundert protestantisch missioniert, bevor es gegen Ende des Jahrhunderts vom katholischen Frankreich erobert wurde; sein Protestantismus ist seither Hort von Opposition, erst gegen die Kolonialherren, dann gegen Diktatoren.
Seine Militäreinheit CAPSAT war schon einmal Schlüsselakteur. 2009 führte ihr Putsch gegen den damaligen Präsidenten Marc Ravalomanana zur ersten Machtübernahme des damaligen Jungunternehmers Andry Rajoelina. Nun hat CAPSAT Rajoelina, der 2019 und 2023 Wahlen gewann, wieder entmachtet.
Randrianirina selbst wurde Ende 2023 wegen eines mutmaßlichen Putschversuches gegen Rajoelina verurteilt und entging damals einer langen Haftstrafe nur durch ein schriftliches Versprechen, so etwas nicht nochmal zu machen. Das hat er nun gebrochen, außer man nimmt seine Beteuerung „Dies ist kein Putsch“ beim Wort. Davon, dass es „kein Putsch“ ist, hängt es auch ab, ob Madagaskar unter Sanktionen gestellt wird, wie es bei Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union und der SADC (Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika) eigentlich üblich ist. Dann wäre auch die gerade wieder angelaufene Finanzhilfe des Internationalen Währungsfonds in Gefahr, die eigentlich den hochkorrupten staatlichen Stromversorger Jirama sanieren soll – ein zentraler Wunsch der Protestbewegung.
Nun hoffen die Akteure des zivilen Widerstands gegen Rajoelina, dass die Akteure des militärischen Umsturzes den Weg öffnen für wahre Veränderung. Sie fordern einen „nationalen Dialog“ über die Probleme des Landes und einen zivilen Premierminister. „Die Generation Z hatte nicht nur Forderungen zu Wasser und Strom, sie wollte das ganze politische System verändern“, kommentiert die Zeitung L’Express, „aber sie dirigiert offensichtlich nicht mehr.“ Die Militärs dürften jetzt aber nicht wie 2009 die Macht einer „politischen Mafia“ überlassen, heißt es in der Zeitung Madagascar Tribune: „Es wäre verrückt, wenn die Generation Z in ein paar Monaten für dieselben Forderungen erneut auf die Straße geht.“
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