Männer-Beratungsstelle Tauwetter: "Missbrauchte gelten als Versager"

Indem wir Opfer stigmatisieren, tragen wir dazu bei, dass sie nicht darüber reden, sagt Thomas Schlingmann von der Männer-Beratungsstelle Tauwetter, der auch selber betroffen war.

"Frauen fangen häufig früher an, darüber zu reden." Bild: dpa

taz: Herr Schlingmann, sind Sie froh, dass der sexuelle Missbrauch von Jungs nun Thema ist?

Thomas Schlingmann: Ich finde es in der Tat sehr erfreulich, dass nun ein Thema Gehör findet, was jahrelang ein Tabu war. Ob wir damit nun geschätzt werden, wage ich aber zu bezweifeln. Denn an manchen Punkten liegen wir konträr zu dem, was diskutiert wird.

Ach ja?

Opfer sexueller Gewalt werden auf eine bestimmte Art bemitleidet als seien sie alles arme Schlucker. Vielen ist wirklich Schlimmes widerfahren und sie kommen damit nicht klar. Aber es gibt auch die, die das Trauma erfolgreich bewältigen konnten.

Was ist an dieser Unterscheidung so relevant?

Diese Differenzierung betrifft vor allem die Betroffenen selbst. Wer sexuell missbraucht wurde, gilt hierzulande als Versager. Gerade bei Heranwachsenden, die sich mit der Frage auseinandersetzen, was es heißt, ein Mann zu sein, ist das ein Problem. Indem wir Opfer stigmatisieren, tragen wir dazu bei, dass sie sich nicht trauen, darüber zu reden.

Und das ist noch mal ein spezifisches Problem von männlichen Opfern sexueller Gewalt?

Ja, das ist ganz klar ein Jungenproblem. Denn das Opferbild passt nicht mit dem zusammen, was die meisten unter Männlichkeit begreifen. So bitter es klingt - bei Mädchen verstärkt es die Rollenzuweisung, wenn sie Opfer werden. Bei Jungs steht sexueller Missbrauch konträr zur Rollenzuweisung.

Was sagt uns das?

Ich will überhaupt nicht behaupten, dass für Mädchen sexueller Missbrauch weniger schlimm ist. Der Großteil der Opfer sexueller Gewalt sind Mädchen, von denen viele sehr heftig leiden. In Zeiten von geschlechtssensibler Arbeit muss jedoch erkannt werden, dass Jungs auf ihre Art oft nicht imstande sind, die Missbrauchserfahrung im Übergang zum Mannwerden alleine zu lösen. Sie haben oft die Tendenz zum selbstgefährdendem Verhalten. Dies muss bei Jungs noch mal zusätzlich beachtet werden.

Sie selbst sind als Junge von ihrem Vater missbraucht worden. Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe es versteckt. Es musste mir auch keiner drohen, denn mir war völlig klar: Über so etwas redet man nicht. Ich fand es furchtbar peinlich, denn ich dachte: Wenn ich das nicht wollte, hätte ich mich ja wehren können. Bei mir ist es so weit gegangen, dass er mich fragte, ob es mir nicht gefällt. Ich habe nicht mehr geschafft als ein Grunzlaut zu bringen, der interpretierbar war in alle Richtungen - übrigens ein gängiges Muster.

Wann konnten Sie darüber reden?

Mit 32.

Ist auch das typisch?

Ja, denn für viele bedarf es eines bestimmten Abstands zum Erwachsenwerden. Wenn ich Anfang 20 bin, werde ich häufig nicht für voll genommen. Dann können viele noch nicht über ihre Missbrauchserfahrung reden.

Und das ist bei Frauen anders?

Frauen fangen häufig früher an darüber zu reden. Und zwar in dem Moment, in dem sie nicht mehr misshandelt werden. Männer tendieren dazu, ihre Missbrauchserfahrung zunächst mit anderen Dingen zu kompensieren. Sie versuchen, besonders erfolgreich zu sein oder möglichst schnell eine Familie zu gründen. Mit Mitte 30 merken viele, dass sie gescheitert sind. Oder sie sind so erfolgreich, dass sie jetzt die Sicherheit haben, darüber zu reden.

Nun ist auch von Fällen bekannt geworden, in denen Jungs von Frauen sexuell missbraucht wurden. Wie verhält es sich bei diesen Opfern?

Das ist ein Thema, dass innerhalb des Tabus sexuellen Missbrauchs von Jungen noch einmal ein zusätzliches Tabu darstellt. Die Zahlen schwanken. Denn es ist schwer, überhaupt eine verlässliche Untersuchung zustande zu bringen. Bei uns berichten regelmäßig ein Viertel bis ein Drittel der Männer, dass sie von einer Frau missbraucht worden sind - unter anderem. Ein ganzer Teil ist von Frauen und von Männern missbraucht worden. Bei Mädchen übrigens genauso.

Derzeit hat man den Eindruck: Missbrauch ist deshalb ein so großes Thema, weil dieses Mal vor allem Jungs betroffen sind. Ist das so?

Sicherlich, bei Mädchen weiß man, dass es das häufig gibt. Der Missbrauch von Jungs hat einen anderen Neuigkeitswert. Ich habe aber eher den Verdacht, das Thema wird so groß gefahren, weil es eine extrem konservative Institution getroffen hat, auf die man nun gut mit dem Finger zeigen kann: die katholische Kirche.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.