Manifesta 12 in Palermo: Wo Themen auf Bäumen wachsen

Ist es die Stadt oder ist es die Kunst, deren Zauber man bei der europäischen Biennale Manifesta 12 in Palermo erliegt? Beide haben viel zu bieten.

Eine Besucherin betrachtet eine Installation des Künstler-Kollektivs Peng! Collective aus Berlin

Migration und Mafia, urbanes Leben und Zusammenleben: Palermo hat viele Themen zu bieten Foto: dpa

PALERMO taz | Wer sehen möchte, wo das Herz Palermos schlägt, muss zum Ballarò. Tagsüber, nachts besser nicht, dann dominieren Drogenhändler das Gebiet. Solange es hell ist aber, drängen sich auf der kleinen Piazza und den umliegenden engen Gassen von Albergheria, dem arabisch geprägten, ältesten und vielleicht eigentümlichsten Viertel Palermos, Stände dicht an dicht und brechen unter dem Gewicht von wildem Fenchel, Auberginen, Kirschen, Hülsenfrüchten, Miesmuscheln, Oktopussen und klebrig-süßen Cannoli beinahe zusammen. Es ist ein Meer aus Gerüchen, aus Farben und Formen, das sich kein barocker Stilllebenmaler besser hätte ausdenken können.

Während der Eröffnungstage der europäischen Biennale Manifesta, die in diesem Jahr in Palermo stattfindet, veranstaltete die Berliner Galerie Exile dort, mitten auf dem Mercato Ballarò ein begleitendes Summer-Camp unter dem Titel „May the bridges I burn light the way“ mit einer täglich wechselnden Gruppenausstellung und performativen Interventionen. Die eindrücklichsten Performances liefern sich auf dem Ballarò jedoch tagtäglich die Markthändler selbst, die laut schreiend und noch wilder gestikulierend ihre Waren anpreisen. Die Kunst muss sich in Palermo anstrengen, gegen ihre irdische Konkurrenz anzukommen.

Dabei wachsen in der Hafenstadt, wo die diesjährigen Manifesta, die seit ihrer Gründung in den frühen 1990er Jahren nomadisch über den Kontinent wandert, vor Anker gegangen ist, die Themen sprichwörtlich auf den Bäumen – auch um selbige geht es, dazu später mehr. Man muss sich ihrer nur annehmen: Als da wären Migration und Mafia, kulturelle und ökonomische Diversität, urbanes Leben und Zusammenleben und dann noch die Natur, die über allem wacht. Für die Idee der von der niederländischen Kunsthistorikerin Hedwig Fijen vor rund 25 Jahren initiierten Manifesta, einen ästhetisch-politischen Dialog auf europäischer Ebene zu stiften, ist Palermo geradezu prädestiniert.

Viel wurde in der Kunst in letzter Zeit über die Über-Biennalifizierung der Welt diskutiert. Bei der Manifesta 12 scheinen derlei feuilletoninterne Diskurse auf einmal keine Rolle mehr zu spielen, vermutlich weil sich die Kunst in Palermo dezent zurückhält und der Stadt den großen Auftritt überlässt. Was wiederum auch daran liegen mag, dass mit Ippolito Pestellini Laparelli und Andrés Jaque zwei Architekten gemeinsam mit Filmemacherin Bregtje van der Haak und Kuratorin Mirjam Varadinis die Großausstellung konzipierten, kein Team nur aus Kunsthistoriker*innen also.

Der Vergleich mit der documenta liegt nahe

Nahe liegt es dennoch, die Manifesta mit der letztjährigen documenta zu vergleichen, die mit ihrem Zweitstandort Athen, eine ähnlich krisengeschüttelte Mittelmeerstadt wie Palermo ausgewählt hatte. Die Unterschiede sind gewaltig. Während sich die documenta auf bereits bestehende Institutionen konzentrierte und Fremdkörper blieb, gräbt die Manifesta die Stadt vielmehr von innen um, nimmt auf, was in ihre brodelt und verwandelt auf diese Weise Ruinen und brachliegende Prunkarchitektur erst in Kunsträume und in Stätten der Reflexion.

Gar nicht so unwahrscheinlich erscheint es daher, dass die Manifesta es tatsächlich schaffen könnte, einen dauerhaften Wandel der Stadt anzustoßen. Man würde es sich wünschen. Wahrhaft umwerfende Orte hat das kuratorische Team nämlich aufgetan, an denen selbst man sich kaum sattsehen kann und die jetzt aufblühen in dem „Planetary Garden“, den die Manifesta qua Titel sein möchte.

Unglaublich scheint es beinahe, das viele von diesen faszinierenden Bauten seit Jahren leer stehen und nur nicht abgerissen werden, weil das zu teuer wäre, der Palazzo Costantino zum Beispiel. Dort hat Matilde Cassani einen karminroten Vorhang in den Treppenaufgang gehängt, auf dem in schwarzen Lettern ein einziges Wort steht: „Tutto“. Der Vorhang verweist auf Cassanis gleichnamige Performance, die am Vormittag des Eröffnungssamstags gleich ums Eck am „Quatro Canti“ stattfand. Zwei Minuten lang ließ sie Konfettikanonen Papierschnipsel in die Luft blasen, ein barockes Spektakel, mit dem sie das Publikum verzückte. Bisweilen zeigt sich die Manifesta eben so, als großes ekstatisches Fest, das alles und alle miteinander vereint.

Ansonsten sind es vor allem die vielen dokumentarischen Arbeiten, die hängen bleiben. Laura Poitras’ Projekt „Signal Flow“ geht den Aktivitäten des US-Militärs auf Sizilien auf den Grund, die in der Stadt Niscemi eine hochmoderne Bodenstation des Satellitenkommunikationssystems der Navy errichtet haben – gegen den Protest der Anwohner*innen.

Oder das Rechercheprojekt „Forensic Oceanography“, in dem das für den diesjährigen Turner-Prize nominierte Kollektiv Forensic Architecture exemplarische Fälle der Flüchtlingskatastrophe am Mittelmeer penibel aufbereitet. Kaum auszuhalten ist es, sich deren gesammelten Ergebnisse, in Form von Texten, Diagrammen, Videos auszusetzen, erst recht in Palermo, wo der Strom der Geflüchteten nicht abreist. Erst recht in Palermo, wo gleichzeitig mit Bürgermeister Leoluca Orlando, der Freizügigkeit als ein Menschenrecht versteht, eine Politik des Benvenuto vorherrscht. Erinnert sich irgendwer noch an Zürich? Weiter weg können einem die glatten, luxusschwangeren Spielereien der Manifesta von vor zwei Jahren kaum vorkommen.

Die Welt als Garten

In Palermo haben Bäume die teuren Schweizer Uhren abgelöst. Man findet diese selbstverständlich im Orto Botanico vor, einem der Spielstätten der Manifesta, aber auch draußen, am Rande der Stadt. Im Brennpunktviertel ZEN haben der französische Gartenarchitekt und Philosoph Gilles Clément, von dem auch das titelgebende Bild, die Welt als Garten zu betrachten, entliehen ist, und das Pariser Designstudio Coloco gemeinsam mit Bewohner*innen einen Garten angelegt. Es ist quasi die Realübersetzung der Ideen Cléments. Tatsächlich, so heißt es, sei der Garten in dem heruntergekommenen Viertel der einzige Ort, der nicht zugemüllt würde, was fast zu schön klingt, um wahr zu sein und wenn es so sein sollte, ihn umso schützenswerter macht. Bleibt weg, überlasst den Bewohner*innen ihren Garten, will man dem Kunstvolk zurufen.

Ohnehin gibt es schon im Zentrum genug zu sehen, zum Beispiel im herrlichen Palazzo Butera, wo Uriel Orlow filmisch-poetische Verbindungslinien zwischen drei Bäumen und gleichsam den Lebensgeschichten eines afrikanischen Einwandererjungen und einer Anti-Mafia-Aktivistin der ersten Stunde zieht. Ein paar Räume weiter steht man staunend vor Maria Thereza Alves’ Installation „Una proposta di sincretismo (questa volta senza genocidio)“ (2018) – Alves arbeitete für diese mit lokalen Handwerkern zusammen, die handgefertigte Kacheln mit fremdländischen Pflanzen und Paradiesvögel bemalten – und sieht mit ein wenig Glück wie einem Schauspiel gleich gerade eine Taube aus der halb zerstörten freskoverzierten Decke fliegt. Man kann dem Zauber Palermo leicht erliegen, er wartet in buchstäblich jedem Loch darauf entdeckt zu werden.

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