Manuel Karaseks Debütroman: Der Kampf gegen das Nirgendwo

Die Welt der Erwachsenen ist eine Fassade mit Rissen: In „Mirabels Entscheidung“ erzählt der Autor über das Fremdsein in Venezuela und Deutschland.

Eine Mauer mit Rissen

Der junge Javier empfindet sein Fremdsein als Privileg, als „Luxus, in zwei Kulturen verwurzelt zu sein“ Foto: revanche/photocase

In den Fluten der Geschwätzigkeit, in denen wir zu ertrinken drohen, kommt es selten vor, dass ein zeitgenössischer Prosatext zu kurz, zu dezent erscheint und das Bedürfnis weckt nach mehr. So ging es mir bei „Mirabels Entscheidung“, dem Debütroman von Manuel Karasek. Sein abruptes Ende ist mein einziger Einwand gegen das Buch, das mich von der ersten Seite an gefangen nahm.

Karaseks Protagonist ist ein Kind, Javier, Sohn einer Venezolanerin und eines Deutschen. Die Mutter war von ihrer verarmten Familie nach Europa geschickt worden mit dem Auftrag, sich dort möglichst reich zu verheiraten. Sie hat sieben Geschwister, folglich verfügt der kleine Javier über zahlreiche Verwandte in Süd- und Nordamerika.

Zunächst wächst Javier in Deutschland auf. Seine Mutter ist dem Familienauftrag nur unzulänglich nachgekommen. Sie hat zwar geheiratet, aber einen mittellosen Germanisten. Der sich und den seinen dann doch Wohlstand verschafft, als ihn ein Nachrichtenmagazin als Literaturredakteur engagiert.

Mit schmerzhafter Schärfe

Der Vater spielt bald eine wichtige Rolle im deutschen Literaturbetrieb, weiß sich gut zu vermarkten und Geld zu verdienen. Doch seine Ehe mit Javiers Mutter Mirabel geht in die Brüche, löst sich auf in Seitensprüngen, Selbstbetrug und Krächen. Kinder solcher Ehen entwickeln früh einen klaren, gnadenlosen Blick auf die Welt der Erwachsenen.

Mit schmerzhafter Schärfe schildert Karasek die Wahrnehmungen seines Protagonisten vom Treiben der Eltern. An einem Punkt des ehelichen Dramas entschließt sich Mirabel zur Rückkehr nach Südamerika.

Das Thema ist ererbt

„Als Javier Torzek elf Jahre alt war, fuhr er zusammen mit seiner Mutter, der fast vierzigjährigen Mirabel Mendoza, auf einem Schiff nach Venezuela. Es war der Januar 1979, eine sibirische Wetterlage hatte Europa regelrecht vereist. Im Hamburger Hafen sahen er und seine Mutter den Frachter Caracas anlegen. Sie hörten die Matrosen, die mit den letzten Handgriffen des Manövers auf Deck beschäftigt waren, die Kälte verfluchen.“

Der Außenseiter blickt mit größerer Klarheit ins Treiben seiner Umgebung als die Einbezogenen

Mit diesen kühlen, einfachen Sätzen beginnt der Roman. Die Reise über den Ozean stimmt den Leser ein auf das Leitmotiv des Textes: Fremdheit als Lebensgefühl. Javier fühlt sich in Caracas als Außenseiter, wie er sich einige Jahre später, als die Mutter wieder mit ihm nach Hamburg geht, in Deutschland fremd fühlen wird. Das Thema ist ererbt: Denn die in Venezuela lebende Familie der Mutter stammt aus Kolumbien, die des deutschen Vaters aus Böhmen.

Die Konturen von Hellmuth Karasek

In der literarischen Welt Manuel Karaseks sind so gut wie alle Beteiligten Fremde: die Figuren des Buchs, der Autor, die Leser. Dabei empfindet der junge Javier sein Fremdsein eher als Privileg, als „Luxus, in zwei Kulturen verwurzelt zu sein“. Je älter er wird, umso mehr begreift er es als Gleichnis einer sich wandelnden Welt: „Nirgends begegnete ihm die Welt als Einheit, sondern überall als Fassade mit Rissen. Das war der Normalzustand der Menschen.“

Wie viele Kinder geschiedener Eltern reflektiert Javier, bei der Mutter lebend, über seinen Vater. Der Roman verhehlt nicht den autobiografischen Hintergrund. Der ferne Vater zeigt die Konturen von Karaseks Vater, dem Literaturkritiker Hellmuth Karasek, der mehr als zwanzig Jahre das Kulturressort des Nachrichtenmagazins Der Spiegel leitete und durch seine Fernsehauftritte populär wurde.

Blasse Männer

Manuel Karasek beschreibt den Aufstieg des armen Literaturstudenten in der aufblühenden deutschen Mediengesellschaft, führt den Leser in die Redaktionsräume des „Magazins“, lässt auch andere bekannte Männer verschlüsselt in seiner Geschichte auftreten, doch seltsam: Sie bleiben mitsamt ihren Kämpfen um Macht, Geld und mediale Präsenz merkwürdig blass, fast fade neben den aufregenden Frauen, der südamerikanischen Großmutter und Mutter, den Tanten und Kusinen, unter denen der junge Javier aufwächst.

Karasek gehört zu den wenigen männlichen Schriftstellern, die imstande sind, Frauenfiguren zu zeichnen, nicht vornehmlich als Sexualobjekte oder Verkörperung unerfreulicher Probleme, sondern als beeindruckende Menschen. „Von 1927 bis 1940 setzte sie zwölf Kinder in die Welt“, schreibt er über Blanca Mendoza, die Großmutter seines Protagonisten, „acht davon überlebten und wurden alt. Kam Javier von der Schule zurück, fand er stets seine Großmutter vor, die trotz ihres Alters unverdrossen weiter ihren Dienst in der Küche versah. Wenn es einen Gott gab und mit ihm einen Himmel, dann ging er davon aus, dass Blanca Mendoza auch dort Arepas backen und den Ablauf des Reiskochens aufmerksam verfolgen würde, denn Reiskochen war eine anspruchsvolle Kunst.“

Die Perspektive des Kindes

In solchen Alltagsbildern werden beiläufig zwei Probleme des Gesellschaftlichen unserer Zeit behandelt, Fremdheit und Einsamkeit. Karasek betrachtet sie aus der Perspektive eines Kindes. Javier kann sich ihren düsteren Aspekten nicht entziehen, doch er findet Beschäftigungen, die ihn vor Entmutigung bewahren, Musik und Schreiben.

Seine literarischen Übungen versteht er als Versuch, gegen das „Nirgendwo“ anzukämpfen, das Vergessen, in dem die kindischen Handlungen der Erwachsenen sonst enden. In der stillen Wohnung seiner Großmutter sitzend, bemüht sich Javier, dem Leben einen Hauch Unsterblichkeit abzuringen: „Ein Tagebuch zu führen bedeutete für Javier, dass er den Tagesablauf festhielt, was an eine buchhalterische Tätigkeit erinnerte, er fühlte jedoch, dass sich unter der Oberfläche das Bedürfnis des Tages verbarg, erzählt werden zu wollen.“

Manuel Karasek: „Mirabels Entscheidung“. Verbrecher Verlag, Berlin 2017, 260 Seiten, 24 Euro

„Mirabels Entscheidung“ erweist sich als feinfühlige psychologische Studie eines geborenen „Fremden“, der mit größerer Klarheit ins Treiben seiner Umgebung blickt als die Einbezogenen. Karasek schreibt konzentriert und zügig, dabei ist sein Text voller Atmosphäre und im Gedächtnis bleibender Bilder. Sein Stil hat den frischen, etwas eckigen Charme eines Erzählers, der zweisprachig aufgewachsen ist und der Sprache, die er schreibt, nicht ganz verfällt.

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