Mark Greifs Essayband "Bluescreen": Wir sind eine Waffe

Taucht ein in die Welt hinter den Bildschirmen und kommt daraus mit einem Plädoyer für die Fortsetzung der Aufklärung wieder hervor: Mark Greifs Buch "Bluescreen".

"Gott, kann das Internet nicht einfach kaputtgehen?" Bild: photocase

Das Ende des Internets hat viele Gesichter: Es kann wie ein Stoppschild aussehen, wie ein schwarzes Loch im Weltall oder als hässliche Website voller Schrift und HTML-Code daherkommen. In jedem Fall aber ist es ein Scherz - das Internet hat weder Anfang noch Ende und damit ist es der Welt so ähnlich wie es dem Leben des Menschen entgegengesetzt ist.

Mark Greif, US-amerikanischer Historiker, Kulturwissenschaftler und einer der Herausgeber des linken Kulturmagazins n+1, betont in seiner neuen Essaysammlung "Bluescreen" diesen Widerspruch zwischen der Unendlichkeit der Welt und der Endlichkeit des Menschen.

"Die exzentrischen Umdrehungen des Globus prägen dem Gewebe der Ewigkeit einen Zwischenbericht zum zivilisatorischen Fortschritt auf", schreibt Greif und formuliert auch gleich ein kulturelles Axiom, das seinem Zwischenbericht - denn nichts anderes sind seine Essays - zugrunde liegt: "Dass sich das Alltägliche im Angesicht des Apokalyptischen behaupten möge - das ist meine Hoffnung in dieser Zeit."

Sex und Geld als Medien

Greif beherrscht die Dialektik des Denkens ohne Hegelianer oder dogmatischer Dialektiker zu sein. Seine Texte behandeln populäre Themen - sexualisierte Kinder, Reality-TV, Rap - und zertrümmern einfache, populistische Zugänge mit Wissen, Widersprüchen und Wirkungsrezeptionen von Ästhetik, Medien, Philosophie, Literatur, Natur, Utopie. Einem Amerikaner obliegt es also, die Europäer an die europäische Aufklärung zu erinnern und "uns" aufzufordern, dieses Werk aller widrigen Umstände und vielfältigen Ablenkungen zum Trotz weiterzuführen.

"Uns", schreibt Greif oft, und "wir". Das starke "Wir" ist seine Waffe, das zugleich die gelegentlichen Vorbehalte europäischer Intellektueller gegenüber den als hyperindividualistisch denunzierten US-Amerikanern obsolet machen soll wie es auch an ein gemeinsames kosmopolitisches Bewusstsein appelliert: "Wir könnten auch ganz anders leben."

"Wir" bedeutet bei Greif immer auch, dass "wir" die "totale Ästhetisierung unserer Leben" mit vorantreiben, indem wir über mediale Prozesse nicht genügend nachdenken und unsere Möglichkeiten sie zu verändern nicht ausreichend nutzen.

Interessant ist Greifs Medienbegriff, der um Totalität weiß und doch den diversen Einzelerscheinungen erstaunlich viel Raum gibt. Sex und Geld gelten ihm als Medien ("Modi der Repräsentation"), vor allem dort, wo sie als Narrativ ins Bewusstsein der Gesellschaft zurückwirken.

Im Essay "Im Hochsommer der Sexkinder" heißt es über sexualisierte Kinder und Jugendliche: "Amerika hat sie mit der Vorahnung einer riesigen Enttäuschung verflucht: Sobald das Fleisch schlaff wird, schwindet noch die letzte Freiheit dahin." Propagiert werde schon lange eine Welt des freien Sex.

Dass es sich dabei um ein uneingelöstes Versprechen handele, zeige sich schon darin, dass sich Asexuelle derzeit ständig für ihr Nichttun rechtfertigen müssten. Sexuelle Freiheit, die diesen Namen verdiente, schlösse auch die Möglichkeit ein, sexfrei zu leben, ohne Argwohn zu erfahren.

Die Bluescreens sind Synonyme unserer Alltagskultur

Die "Bluescreens", die blaue Strahlung von den Bildschirmen unserer TV-Geräte, Computer und Smartphones, sind Synonyme für eine Alltagskultur, die nur wenig von sich, ihrer Herkunft und ihren Zielen weiß und die im Verdacht steht, mehr Wissen auch gar nicht haben zu wollen.

Damit aus einer bloßen Phänomenologie der kulturellen Gegenwart, einer Zurichtung des Einzelnen durch Werbung, Konsum, Jugendwahn, Medien, Trends und Moden mehr wird, also Erinnerung, Reflexion, Utopie - womöglich ein Plan -, arbeitet Greif nach und nach hybride Begriffe und Kategorien heraus, die hilfreich sein könnten, um ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, das über Politik und Ökonomie hinausreicht.

Dem Hype um die "messianische Heilsbotschaft des Internets" begegnet Greif nicht mit Verzichtsappellen oder dem falschen Gegensatz zwischen "echtem" und "virtuellem" Leben. Er zitiert einen seiner Studenten: "Gott, kann das Internet nicht einfach kaputtgehen?" und bringt die verbreitete Überforderung vieler mit den Anforderungen der digitalen Welt auf den Punkt. Seine Antwort lautet: Nein, es gehe eben nicht darum, sich zu verweigern, sondern die Last zu schultern, Bericht zu erstatten, Trivialisierungen zu meiden, die Weisheit zu mehren.

Die Essays sind angriffslustig und angreifbar zugleich. Einige seiner beschriebenen Abgründe stellen sich bei näherer Betrachtung als Ebenen mit kleinen Senken heraus, so mancher Exkurs in Literatur, Philosophie und griechische Mythologie führt nur umständlich und herbeigebogen zum Ausgangspunkt zurück.

Ja, es gibt andere Wege als den von Mark Greif, das Neue zu sehen und zu begreifen. Die Guten unter ihnen werden sich mit seinen irgendwann und irgendwo kreuzen - die Ästhetik und Phänomene der Gegenwart sowie ihre Kritik sind endlich.

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