Medizinstudent und Körperspender: Der Körper ist die Schnittstelle

Der Student lernt an Leichnamen, wie der Mensch funktioniert. Der Schwerkranke spendet seinen Leib. Besuch bei Zweien, die voneinander profitieren.

Zur Übung: Medizinstudenten sezieren die Hand einer Leiche. Bild: dpa

HAMBURG taz | Am Anfang war der Körper verdeckt. Dann zog ein Tutor das Tuch weg. „Auf den ersten Blick sah es unecht aus“, erinnert sich Philipp Bittorf. Der Medizinstudent hat am ersten Tag des Anatomie-Semesters gemeinsam mit seinen Kommilitonen Körperpunkte des Leichnams abgetastet. Die Studenten wussten nicht, wer der Tote war und warum er ihnen seinen Körper anvertraut hatte. Behutsam seien sie gewesen, sagt Bittorf. Ungewohnt kühl und fleischig fand er die Haut.

Gerd Steiner* ist ein zukünftigen Körperspender. An einem Sonntagmittag sitzt der fünffache Großvater auf seinem medizinischen Spezialkissen, vor ihm eine große Schale Schokoladenpudding, neben ihm seine Frau. Das Wohnzimmer ist aufgeräumt, akkurat sind die Familienfotos an der Wand aufgereiht. Steiner redet über seine Zeit als Matrose auf See, den Familienpudel und die Tomaten, die im Garten kräftig gewachsen sind.

Über seine Gedanken an den Präpariertisch redet er wenig. Wenn Steiner über den Tod spricht, schweift er schnell ab, zurück zum Leben. Sieben Tage hätten die Ärzte ihm damals noch gegeben, erzählt der 73-Jährige. Lungenkrebs hieß es, mit Metastasen, nicht operabel. Der Krebs läge zu nahe am Herzen. Steiner klopft sich auf die Brust. 20 Jahre ist die Diagnose jetzt her.

Steiner war regelmäßig bei der Blutspende und er hatte vor, im Falle seines Todes seine Organe zu spenden. Als die Ärzte 1994 den Krebs feststellten, haben sie ihm gesagt, dass die Organe nun nicht mehr genutzt werden können. Steiner fragte, was er sonst tun könne. Wenn er sterbe. Jetzt baumelt eine metallene Kette an seinem Hals, mit einem rechteckigen Anhänger, der ihn als Körperspender ausweist. „Meine Hundemarke“, scherzt er.

Wenn es um die Verwendung seines Körpers geht, ist Steiner pragmatisch. „Wenn ich jemandem einen Arm schenken kann, den ich selbst nicht mehr brauche, warum sollte ich das nicht tun?“ Und die Studenten, die bräuchten das schließlich zum Lernen. „Die sollen mich ruhig dabei zerschnippeln, mir persönlich ist das egal.“

Seitdem er Körperspender ist, telefoniert Steiner jedes Jahr mit Udo Schumacher, seit 20 Jahren schon. Neulich hat er den Leiter des Anatomischen Instituts des Hamburger Uniklinikums gefragt, wie alt er sei. 57 Jahre, war die Antwort. Warum er das wissen wolle? „Weil ich mich ja auf einen neuen Professor einstellen muss, wenn Sie in Rente gehen“, hat Steiner gesagt. Der ehemalige Seemann mit den klaren, blauen Augen lacht. Es kann ruhig noch ein paar Jahre mit ihm weitergehen, findet er.

Mehrere Stunden in der Woche beschneiden, befühlen und betrachten die Medizinstudenten die für die Konservierung in Formalin getränkten Körper. Philipp Bittorf, der angehende Arzt, sitzt vor dem Anatomischen Institut und blickt durch seine Brille auf die Eingangstür. „Der Geruch war am Anfang komisch“, sagt er.

Bittorf spricht nicht hektisch, aber die Sätze kommen ohne Zögern. Er erinnert sich daran, wie verwundert er beim Präparieren der Leiche feststellte, dass der Magen viel kleiner war als in seiner Vorstellung. Oder wie er plötzlich verstand, wie ein Pfortaderstau zustande kommt.

In der ersten Woche des Anatomie-Semesters hat sich Philipp Bittorf viel damit beschäftigt, wer die Personen auf dem Tisch waren, was sie davor wohl gemacht haben. Die Leichen sind anonym. „In unseren Büchern sieht man immer diese hochtrainierten Körper. Im Anatomiekurs habe ich an sieben verschiedenen Körpern gearbeitet. Jeder sieht anders aus“, erzählt er.

Manchem Körper habe er angesehen, dass der Mensch krank war, manchem, dass er gern gegessen hat. Irgendwann sei das Fachliche in den Vordergrund gerückt. Ein gewisser Abstand ist nötig, findet Bittorf. „Je mehr ich präpariert habe, desto mehr hat der Körper das Menschliche verloren. Zum Schluss hat man zum Beispiel nur noch einen Lungenflügel in der Hand.“ Mit gespreizten Fingern deutet der Medizinstudent die Größe einer Lunge an.

Die anatomische Arbeit an den Körpern kann bis zu drei Jahre dauern. Die Angehörigen müssen so lange auf die Beisetzung warten. Dann wird der Körper eingeäschert, wie es in diesem Fall gesetzlich vorgeschrieben ist. Eine natürliche Verwesung ist durch die Konservierung des Körpers nicht mehr möglich.

Die Toten werden auf einer Ehrenanlage des Uniklinikums anonym in einer Urne bestattet, nach Wunsch auch im Familiengrab oder auf See. Die Bestattungskosten zahlen die Spender selbst, momentan sind es 1.200 Euro. Für die wissenschaftlichen Untersuchungen kommt das Uniklinikum auf, die Friedhofsanlage wird ohne Kosten für die Angehörigen gepflegt.

Etwa 80 Leichen liegen momentan im Anatomischen Institut, sagt Anatomieprofessor Schumacher. In seinem Büro stapeln sich Papiere und Fachliteratur, ein paar mikroskopische Präparate liegen auf dem Tisch. In Großbritannien habe die Körperspende eine besondere Tradition, erzählt der Direktor mit seinem norddeutschen Akzent. Als Reaktion auf die West-Port-Morde von 1827 und 1828, als zwei Männer im Auftrag des Anatomen Robert Knox 16 Menschen umbrachten, wurde die Körperspende im „Anatomy Act“ von 1832 erstmals rechtlich institutionalisiert.

Heute sind die Menschen mit Spenderausweis im Schnitt über 60 Jahre alt. „Viele Spender sind der Medizin dankbar und wollen etwas Gutes für die Ausbildung tun. Teilweise haben die Menschen auch keine Angehörigen und möchten deshalb gerne anonym bestattet werden“, sagt Schumacher.

Manchmal bräuchten Ärzte bestimmte anatomische Details, bevor sie neue Operationsmethoden anwenden können. Die Techniken würden immer weiter verfeinert, zum Beispiel bei der Schlüssellochchirurgie. Die Ärzte proben dann die modernen Verfahren an den Körpern. Erkrankungen und Todesursachen werden nicht untersucht. Die meisten Körper werden für die Lehre verwendet.

Im Präpariersaal war es anfangs noch laut, erinnert sich der Student Bittorf. Viele hätten über Unsicherheiten geredet, über Unbekanntes. Mit dem Tod sind einige Erstsemestler zum ersten Mal konfrontiert. Von Beginn an werden die jungen Medizinstudenten Woche für Woche damit vertraut gemacht, körperlich und gedanklich. Manche von ihnen sind erst 17 Jahre alt.

„Patienten haben später wahnsinnig Angst vor Unsicherheit von uns“, sagt Bittorf. Am Anfang stelle sich jeder ungeschickt an. Für ihn ist es deshalb wichtig, dass die Studenten erst an den Körperspendern lernen. Er fand es gut, mal kräftiger und mal leichter zudrücken zu können, ein Gefühl für die Körperstruktur zu bekommen, bevor er den Kontakt mit Lebenden hatte. Später im Semester sei es im Präpariersaal ruhiger gewesen. Konzentriert fand der Student die Atmosphäre.

Beeindruckt hat Bittorf vor allem, wie die Organe zusammenarbeiten. Wenn man einen Computer aufschrauben würde, hätte man viel weniger Einzelteile und trotzdem gingen Computer ständig kaputt, sagt er. Das Anatomie-Semester war das Semester, auf das er sich am meisten gefreut und wovon er am meisten erwartet hat. Er hat sich die Engstellen angeschaut, durch die der Ischiasnerv verläuft, und ihm ist klar geworden, warum der Nerv so viele Menschen plagt. Im Anatomie-Kurs hat er den Zusammenhang des Körpers begriffen.

Am Ende jedes Kurses kommen Angehörige und Studierende ein Mal zusammen, auf einer Gedenkfeier, die die angehenden Ärzte organisieren. Zuletzt fand sie im Hörsaal der Anatomie statt. Die Mediziner machten Musik mit Violine und Cello. Eine Studentin hatte ein Stück auf der Gitarre komponiert. Die Verwandten hätten zufrieden gewirkt, sagt Philipp Bittorf und die Gedenkfeier sei „wirklich wunderschön“ gewesen.

Bittorf hat eine Rede gehalten. Er hat den Familien und Freunden der Körperspender gesagt, dass er dankbar ist. Er hat gesagt, dass er Respekt hat, vor den Toten und vor ihren Angehörigen. „Zu sagen: Du darfst meinen Körper haben, das ist viel wert“, sagt Bittorf.

Gerd Steiner hatte Kehlkopfkrebs, er hatte zwei Herzinfarkte allein in diesem Jahr, er hat Knochenkrebs und Lungenkrebs. Vor ihm steht neben dem Schokopudding eine Dose Tabletten. Blaue, weiße, rosafarbene, es sind viele Tabletten. „Morphium, damit ich die Schmerzen aushalte“, erklärt er. Nicht nur er hat sich mit seinem Tod auseinandergesetzt, auch seine Frau und seine drei Kinder haben das getan.

Das Ehepaar möchte anonym bestattet werden, wie es bei der Körperspende die Regel ist. Dass das ganze Dorf einmal zum Gucken in die Kirche kommt, darauf haben sie keine Lust, sagt Steiner. Er zieht den Präpariertisch vor. „Ich habe das für mich so entschieden“, sagt Steiner abschließend. Und erzählt lieber weiter von seinen Matrosenjahren auf dem Meer.

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